4 • Talia

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Das Leben in Sonelem ist strukturiert. Viele sprechen von Prädestination durch eine höhere Macht. Mein Vater nannte es vorbestimmt durch Regierung und Gesetze - und gegen die konnte er, im Gegensatz zu einer höheren Macht, vorgehen.

Meine Zeit ist bereits abgelaufen, aber eure beginnt gerade erst, pflegte er zu sagen.

Dies führte dazu, dass mein Bruder und ich zur Schule gehen durften - für einen Jungen weniger außergewöhnlich. Mädchen hingegen werden meist nach der Grundbildung von drei Jahren zurück in den Haushalt verdonnert. Warum sollte eine Frau auch zu mehr fähig sein, als das Rezept aus dem Kochbuch entziffern zu können?

Mein Vater sah das anders. Ich sollte nicht werden, was von mir verlangt wurde. Dienstmädchen oder Hausfrau konnte ich auch mit Bildung werden, wenn dies mein Wunsch sein sollte.

Also verbrachte ich vier weitere Jahre in der Schule, untergebracht in einer Klasse voller Jungen. Manche von ihnen hielten nicht viel von mir, andere achteten den emanzipierten Gedanken meines Vaters und mein Lehrer behandelte mich genauso wie die Jungen - streng, aber respektvoll.

Als mein Vater auf dem Meer verunglückte, konnte Luan den Unterricht finanziell nicht stemmen. Seit dem lehrt er mir, was er selbst gelernt hatte, derweil ich nebenher in der Buchhandlung am Hafen arbeite. Dies zählt weniger zu den traditionellen Tätigkeiten einer Frau in Sonelem. Marvin jedoch gab mir eine Chance, nachdem ich ihm die ersten Seiten eines Sachbuchs über die Treibjagd fehlerfrei vorlesen und das Rückgeld im Kopf berechnen konnte.

Ich liebe es, die Kunden, vorwiegend Männer, zu beraten, die neuen Bücher einzubinden und in freien Minuten zwischen den Zeilen eines Romans abzutauchen. Mein Vater und Luan haben mir dies ermöglicht und dafür bin ich ihnen auf ewig dankbar.

Während Mädchen meines Alters für gewöhnlich ihre Eltern unterstützen, den Adeligen den Boden kehren oder eine eigene Familie gründen, kann ich jeden Weg gehen. Ich weiß nicht, ob meine Arbeit das ist, was mich auf ewig erfüllen wird, doch gegenwärtig fühlt es sich richtig an.

Magier hingegen haben keine Wahl. Magier haben eine Pflicht. Sie dienen Sonelem und unterliegen der Führung des Königs. Die Sicherheit eines Landes wird durch die Stärke der Magier bestimmt. Sonelem ist eines der größten Reiche und kann seit Jahrzehnten jegliche Angriffe erfolgreich abwehren. Das Massaker in Vanelece vor zwei Duzend Jahren ist der jüngste, gelungene Überfall auf unser Reich gewesen - etwas, das mir Luan gelehrt hatte. Es gibt da jedoch einen Haken - auch das Auftreten der Magie ist strukturiert.

Sie tritt nicht von einem Tag auf den anderen auf. Sie ist angeboren. Eine Vererbung ist nicht zwingend möglich, dennoch zieht sich das Auftreten der Magie konstant über die gesamte Lebensspanne. Wer Übernatürliches zeigt, wendet sich selbst dem König zu oder wird gemeldet, falls wir Menschen es früher bemerken.

In der Gemeinschaft mit anderen Magiern können sie ihre Fähigkeiten entfalten, austesten und trainieren, bevor sie dem Allgemeinwohl ihren Dienst erweisen. Zu diesem zählt üblicherweise nicht, dass sie Häuser in Brand setzen.

Luan sucht den Boden ausgiebig nach einem Auslöser für das Feuer ab.
"Das kann doch nicht sein", murmelt er und löst die Überreste einer Diele aus dem Boden. Ich schließe die Tür und trete hinter ihn. Das Feuer kann nicht natürlich entstanden sein. Dazu hatte es zu schnell ein zu großes Ausmaß erreicht. Es kann sich nur um eines gehandelt haben - Magie.

"Luan, das bringt nichts."
"Ich werde sicherlich kein Auge zumachen, solange ich nicht weiß, was das Feuer verursacht hat."

Aufmerksam dreht er die Diele einmal um die eigene Achse und legt sie zu den anderen, die er bereits inspiziert hat. Wenn er so weiter macht, werden wir bald keinen Boden mehr haben.
Vorsichtig lege ich ihm eine Hand auf die Schulter. "Wir wissen beide, was es ausgelöst hat."

Luans Schultern sacken unter mir ab. Die Wahrheit gefällt ihm nicht. "Magie." Dann schüttelt er meine Hand ab, als hätte er sich an ihr verbrannt und dreht sich zu mir um. Sein Blick gleitet an mir hoch und runter und ich glaube etwas in seinen Augen zu sehen, was ich nie zu sehen erwartete - Angst. Blanke Angst. "Du."

"Was? Nein!", entfährt es mir. "Die Magierin."
"Sie ist nicht hier!"
"Sie muss mir gefolgt sein", bringe ich entrüstet hervor, meine Stimme schießt in die Höhe. Wie kann er mir das vorwerfen? Er sollte wissen, dass Magie in unser beider Leben keine Rolle spielt. "Und als sie gemerkt hat, dass ich sie melden will, hat sie-"
"Talia."

Augenblicklich verstumme ich. Luan nennt mich nie beim ganzen Namen. Schweigend starren wir uns an, keiner traut sich ein Wort zu sagen. Am liebsten würde ich nun schweißgebadet aus diesem Albtraum aufwachen und den ganzen Tag als ein Hirngespinst titulieren können.

Doch ich wache nicht auf. Das hier ist die Realität und ich sollte mich ihr nicht verschließen. Denn als ich in die mächtigen Flammen gestarrt habe und das Gefühl der aufbrausenden Wut mit einem Schlag verklungen war, hatte ich es bereits geahnt. Geahnt, aber nicht akzeptiert.

"Ich habe keine Ahnung, warum das passiert ist", wispere ich.
Meine Stimme ist nur ein Hauch in der Stille als würden die Worte Form annehmen, sollte ich sie lauter aussprechen. Luan zieht den Stuhl heran, der im Feuer keinen Fuß eingebüßt hat, und deutet mir an, mich hinzusetzen. Dann kniet er sich vor mich und umschließt meine zu Fäusten geballten Hände mit seinen.

"Das werden wir schon herausfinden. Gemeinsam." So wie wir alles in den letzten Jahren bewältigt haben. Es schwebt unausgesprochen zwischen uns. "Aber dafür muss ich alles wissen, was du weißt."

"Ich tappe da leider genauso im Dunkeln wie du." Das war das erste Mal, dass ich ein Feuer ausgelöst habe, geschweige denn andersartige, übermenschliche Tätigkeiten verrichtet habe. Das Wissen über Magie war mein ganzes Leben präsent, das Anwenden ebendieser jedoch nicht. Weil ich es nicht konnte, weil ich nicht damit geboren wurde. Hängt das etwa mit den zwei Begegnungen heute zusammen?

Ich entblöße den Bluterguss auf meinem Arm. Vorsichtig fahre ich darüber. Kann das möglich sein? Das müsste bedeuten, dass all das revidiert werden müsste, was Magie bislang geprägt hat.

"Woher ist das?"
"Von der Magierin." Luan dreht behutsam meinen Arm, um die Spuren im Licht besser betrachten zu können. "Das mag sich sonderbar anhören, aber was, wenn Magie nicht angeboren sein muss?"

Was, wenn der Schmerz eine Begleiterscheinung davon war, dass sie ihre Magie mit mir geteilt hat? Oder dass sie ihre Kräfte in Panik vor dem Magier komplett an mich abgetreten hat?

Luan will bereits zu einer Antwort ansetzen, als auch ihm bewusst wird, dass es möglich sein muss. Magier entdecken ihre Fähigkeiten üblicherweise im Kindesalter, wenn nicht schon früher. Siebzehn Jahre lang die Kräfte unterdrückt zu haben, nur um sie in einer hitzigen Situation nicht kontrollieren zu können, erscheint mir absurd.

Dazu hätte es bereits weitaus mehr Gelegenheiten in meinem Leben gegeben, insbesondere den herzlosen Abgang unserer Mutter. Plausibler ist jedoch, dass die Magierin einen Weg gefunden hat, die Magie an mich überzuleiten. Denn wenn etwas die Grenzen der Unmöglichkeit sprengen kann, dann ist es die Magie selbst.

"Diese verdammte Magierin", flucht Luan. Dann sehe ich, wie es regelrecht in seinem Kopf rattert. "Okay, Lia, versprich mir eines."
"Das kommt darauf an."
"Du wirst dem König nicht dienen."
Ich starre in seine eisblauen Augen, die ein Ebenbild der meinen sind. Dann zuckt mein Mundwinkel in die Höhe. "Daran hätte ich nicht einen Moment lang gedacht."

Meine Mission ist eine andere - die Magierin, oder was auch immer sie nun sein mag, zu finden und mir diese Magie wieder abnehmen zu lassen. Denn ich suche nicht nach einem Weg zu mehr Macht. Ich suche nach einem Ausweg. Und ich werde sicherlich nicht Luan alleine zurücklassen, nach all dem, was er für mich die letzten Jahre geopfert hat.

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