65 • Talia

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Zu sterben ist ganz anders, als ich mir jemals hätte ausmalen können.

Nicht, dass ich wirklich dachte, ich würde so früh mein Leben lassen, aber gewisse Vorstellungen hat doch ein jeder von dem Tod. Man fragt sich, ob es schmerzvoll ist. Ob es danach weitergeht. Ob man die wiedersieht, die man verloren hat.

Der Todeskreis lässt mich Schmerzen erfahren, von denen ich nicht glaubte, dass ich ihnen standhalten könnte - letztendlich kann ich es auch nicht. Es fühlt sich an, als würde man mir meine Haut aufritzen, die Adern Stück für Stück wie zerbrechliche Fäden hervorzerren, bis nur noch eine leere Hülle meiner selbst zurückgelassen wird.

Der Schmerz katapultiert mich geradewegs aus meinem Körper. Dann sehe ich sie: das Mädchen, das ich bin. Oder einst war. Nun ist sie ein kleiner, lebloser Körper neben dieser verfluchten Vitrine. Ich will die Hand nach mir ausstrecken, meine Haut ein letztes Mal berühren, möchte Luan eine Hand auf die Schulter legen und ihm den Ausdruck der herzzerreißenden Traurigkeit aus den Augen locken, die auch Ashs Gesicht zeichnet, doch ich kann es nicht. Ich habe keine Hand, keinen Arm, nichts.

Und ich möchte schreien, bis meine Kehle brennt, als mir bewusst wird, dass Simon seine eigene Freiheit für mein Leben gehandelt hat. Dass er sich einfach verdrückt hat. Dass ich mein eigenes Glück auf das Spiel gesetzt und mich dabei so in ihm getäuscht habe.

Dann wird plötzlich alles verschluckt. Durch eine Schwärze, so dunkel, dass ich mir sicher bin, dass es nicht weitergeht. Dass der Tod eine Endstation hat. Dass es kein Leben danach gibt, keine Hölle für mich und all meine Sünden, aber auch keinen Himmel für meinen Vater.

Das jähe, panische Röcheln ist das nächste, was ich höre. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass es mein Röcheln ist. Dass sich Luft in meine Lunge drängt, mein Brustkorb anhebt und wieder absenkt, mein Herz schlägt. Ich muss mich irren. Halluzinieren. Drehe jetzt vollkommen durch. Doch Wills Stimme wirbelt mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

"Wie ist das möglich?"
Wenn ich das nur selbst wüsste, dann hätte ich mich eher in den Kreis gewagt. Verblüfft stütze ich mich auf die zittrigen Unterarme, streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht und kneife mich selbst. Ich lebe. Aber ich weiß nicht, warum. Wills vor Überraschung weit geöffneten Augen nach ist das für ihn ebenso ein Rätsel.

Mein Blick schweift zu Ash weiter. Seine gerunzelte Stirn ist eine unmissverständliche Botschaft: wenn er könnte, würde er mich zweifelsohne aus diesem Kreis schleppen. Er kann jedoch nicht. Als er einen Schritt hinter die Steine wagt, wird er gnadenlos zurückgedrängt. Der Todeskreis gestattet wohl immer nur einer Person Eintritt. Frustriert presst er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

"Talia, komm da raus!" Luan ist außer Sicht vor Wut und Hilflosigkeit. "Sofort!"
Doch auch wenn ich nachher eine Schimpftirade über mich ergehen lassen muss, für die ich im Gegensatz zu Ashs gebrochenem Herzen nicht verantwortlich bin, ignoriere ich meinen Bruder getrost.

Noch ist das Kraut vollkommen unversehrt, hat keinerlei Bedrohung erlitten. Ich spreize die Finger, konzentriere mich auf das Stechen in meinem rechten Knöchel und versuche das Feuer zu steuern, doch da ist keinerlei Rauschen tief in mir. Ich nehme einen tiefen Atemzug, probiere es erneut. Nichts. Kein Brennen in meinen Adern, kein Prickeln in meinen Fingerspitzen. Absolut nichts.

Verwirrt schnellt mein Blick zu Ash, weil er genau weiß, woran ich soeben gescheitert bin, obwohl wir kein Wort darüber wechseln müssen. Er versteht mich auch so.

Für den Bruchteil einer Sekunde wendet er den Kopf ab, lauscht, dann kniet er sich hin und lässt das Schwert über den Boden schlittern. Doch es kommt kein Stück weiter als er selbst. Weil es eine Bedrohung ist und diese sofort abgeblockt wird.
"Das ist ein erstaunlicher Anblick, Engelchen."

InhumanityWhere stories live. Discover now