29 • Ash

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Will keucht und lässt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, kaum hat er die Tür aufgeschlossen. Für einen Moment schärfe ich meine Sinne, um sicherzugehen, dass keine Gefahr lauert. Dann stelle ich es mühelos wieder ab - Talia trägt unbewusst den entscheidenden Teil dazu bei.

"Die Wachen sind gut."
"Nicht gut genug", werfe ich ein, stoße die Tür mit meiner Fußspitze zu.

"Denkst du, sie sind uns gefolgt?"
Ich schüttele den Kopf. Mit Sicherheit hat Lucius mittlerweile bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Die bewusstlosen Wachen am Eingang des Palastes werden ihm jedoch keinen Aufschluss darüber geben können, wer hinter Talias Verschwinden steckt.

Behutsam lege ich sie auf meinem Bett ab und breite die warme Decke über ihr aus, derweil ihr Kopf zur Seite kippt. Noch bevor wir den Palast hinter uns gelassen hatten, war es um Talias Bewusstsein geschehen. Wie sollte es auch anders sein? Seit ich sie zuletzt in der Buchhandlung gesehen habe, hat sie deutlich an Gewicht verloren. Auch die zahlreichen Blutergüsse und die frische Note des Johanniskrauts an ihr haben deutliche Spuren hinterlassen. Das vergeht alles wieder, kann durch Zeit geheilt werden. Nicht so jedoch der kleine Löwe auf ihrer Haut direkt über dem Schlüsselbein - ein Brandmal, das die Ewigkeit überdauern wird. Ein Zeichen der Unverfrorenheit, die im Palast lauert. Ein Zeichen, für das ich Lucius enthaupten werde, wenn ich die Gelegenheit dafür bekomme.

"Wenn es einen Teufel gibt, dann wohl in der Gestalt des Beraters, der ihr den Löwen aufgedrückt hat", murmelt Will. Er hat sich mir zugedreht, mein Zögern bemerkt. Natürlich hat er das Brandmal gesehen. Es ist so platziert, dass es in diesem Kleid unmöglich übersehen wird.

"Lucius", stimme ich zu. Kein anderer Berater wäre dermaßen skrupellos.
"Ich glaube, den habe ich auch kennengelernt. Den und Graf von Aufdringlichkeit."
Mein Kopf schnellt zu ihm herum. "Wen?"

Will zuckt gelassen die Schultern. "So einen feinen Herrn, der Gefallen an ihr gefunden hat. War zum Glück ein Leichtes ihn zu duplizieren - er sah unfassbar gut aus."

"Wenn du meinst, er sah dir ähnlich, dann müssen wir nochmal über unfassbar gut aussehen reden."
"Du bist bloß neidisch", meint Will, verzieht amüsiert die Lippen. "Aber kein Grund zur Eifersucht - das Interesse war sehr einseitig."
Will vorzutäuschen, dass mir Talia egal ist, muss ich gar nicht erst probieren.

Ich lehne die Tür zum Schlafzimmer an, damit sie nicht durch uns geweckt wird und ich dennoch jeden Atemzug problemlos hören kann, wenn ich möchte. Wenn ich möchte - ein Luxus für meine Sinne, dass sie hier ist. Dass ich selbst bestimme, wann ich höre, sehe und rieche, was ich nicht sollte. Sie zu berühren, hat sämtliche Reize lahmgelegt, geradezu von mir abgeblockt. Wie soll ich mich von ihr fernhalten, wenn ich weiß, was sie mit ihrer Präsenz, einer Berührung, ihrer Stimme auslösen kann?

"Bist du verletzt?"
Will krempelt den Ärmel seines Shirts hoch, entblößt eine tiefe Wunde am Unterarm. "Ich glaub', Nahkampf sollte ich nochmals üben."
"Besser so. Der Arm hätte ab sein können", stimme ich zu, hole Wasser und ein Stück Stoff. Flink verarzte ich ihn, derweil Will sich auf dem Stuhl zurückfallen lässt, die Decke neugierig inspiziert.

"Ist sie hier sicher?"
"Absolut." Ich hätte sie nicht hierher gebracht, wenn es Zweifel daran gäbe. "Um Runa kümmere ich mich noch. Sie ist die Einzige, die weiß, dass ich in Riyak aufzufinden bin."

"Ah, die." Will verdreht die Augen. "Sicherlich leicht zufrieden zu stellen."
Ich zucke die Schultern. Wenn man etwas hat, das sie begehrt, dann kann man sich auf sie verlassen. Nur, dass ich nicht so schnell damit gerechnet habe, ihr wieder gegenüber treten zu müssen und folglich erst etwas auftreiben muss. Hoffentlich genügt ein antik aussehendes Zauberbuch.

"Haben sie dich auch erwischt?"
Will lässt seinen Blick suchend über mich wandern, beinahe so, als wollte er eine Wunde finden, um mir sagen zu können Schau! Solange sie auch dich treffen, ist mein halb abgehackter Arm nicht tragisch. Zu seiner Unzufriedenheit schüttele ich den Kopf. Will schnalzt genervt mit der Zunge. "Das Glück wie immer auf meiner Seite."
"Glück und Erfahrung sind nicht das Gleiche", meine ich und kippe das blutrote Wasser weg. Im Gegensatz zu mir, hat sich Will noch nie dem Ernstfall stellen müssen. Jegliche Kämpfe waren inszeniert, entweder gegen mich, Simon oder eine seiner Illusionen.

"Wahre Worte. Aber sag' - was machen wir jetzt mit ihr? Ich könnte Torin fragen, ob-"
"Nein." Torin bedeutet Simon und diesen sehe ich ungern in Talias Nähe. "Wir lassen ihr die Wahl."
"Du denkst doch nicht wirklich, dass sie bei dir bleiben möchte?"

Zugegeben, ich mache mir keine Hoffnungen - zu sehr bin ich mir ihres hasserfüllten Blickes bewusst, bevor sich ihre meerblauen Augen nach oben gedreht hatten und sie der Ohnmacht verfallen war. Derweil Will den Ärmel über den provisorischen Verband zieht, stapele ich ein paar meiner Klamotten auf dem Tisch an.
"Genau deswegen, solltest du hier sein, wenn sie aufwacht, nicht ich." Ich deute auf den Stapel. "Sie soll sich einfach bedienen. Das Kleid ist sicherlich nicht bequem."

"Wohin gehst du?"
"Zu Runa, danach nach Meral - ein paar Angelegenheiten erledigen."
Will greift nach meinem Arm, zwingt mich dazu, ihn anzuschauen. "Du hattest mir etwas bezüglich Simon versprochen, vergiss das nicht."
"Wann habe ich mein Wort denn nicht gehalten?" Ich warte darauf, dass er seinen Griff lockert. "Zumal Kaya lebt. Simon interessiert mich nicht mehr."
Fassungslos klappt Wills Kinnlade hinab. "Du hast es die ganze Zeit gewusst und rückst jetzt damit heraus?"

Genau diese Reaktion wollte ich vermeiden. Nicht zu erwähnen, dass ich den Zeitungsartikel mittels meiner Nase unter der Kommode gefunden hatte, hat einen simplen Grund - ich kann mir selbst nicht erklären, warum Kaya seit Monaten frei ist und sich lieber im Osten Sonelems aufhält, als Kontakt zu suchen. Wills Mitleid möchte ich nicht. Was auch immer meine Schwester dazu verleitet hat, ich werde dahinter kommen.

"Seit ein paar Stunden. Nur dank ihr." Mein Blick streift die Tür, lauscht Talias ruhigem Herzschlag. "Schau hin und wieder, dass alles in Ordnung ist, okay?"
Will streckt den Rücken durch, führt eine Hand zur Stirn. "Zu Befehl. Es sei denn, ich schlafe selbst ein."

InhumanityWhere stories live. Discover now