42 • Talia

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Es ist merkwürdig nach Wochen wieder in Meral zu sein und zu wissen, dass das Leben hier völlig normal weitergelaufen ist. Luan und ich kehren mitten in der Nacht in unser Haus zurück, um unentdeckt zu bleiben. Wie sollen wir auch erklären, wo wir die letzten Wochen waren, nachdem er offiziell vermisst gemeldet wurde? Ich weiß, Luan würde nur zu gerne bei den Männern der Küstenwache vorbeischauen, von ihren offenen Armen empfangen werden und ein wenig vor dem Wachthaus plaudern, doch es wäre keine gute Idee. Sie würden Fragen stellen. Sie wären zu neugierig. Solange jedoch der Löwe oberhalb meines Schlüsselbeins prangt und die Magie in mir lodert, können wir nicht riskieren aufzufliegen.

Ich hingegen wurde weniger vermisst. An der Tür zu Phantasia klebt kein Ich suche dich! Aushang, weshalb ich schwer davon ausgehe, dass Marvin mich bereits erfolgreich ersetzt hat. Auch die Bäckerei ist, dem kleinen Zettel in der Fensterscheibe nach, die nächsten Wochen geschlossen - vermutlich befindet sich Lucia kurz vor ihrer Niederkunft.

"Wo sind denn-" Luan betritt das Bad, hält inmitten seiner Frage inne. "Was machst du da, Lia?"
"Wonach sieht es denn aus?"
Ich will erneut nach der Schere greifen, die Ungleichmäßigkeiten immerhin ein wenig abmildern, doch Luan kommt mir zuvor.
"Wir wollten sie doch nur färben." Er streicht meine Haare vorsichtig glatt, kontrolliert die Längen an beiden Seiten.
"Du wolltest sie nur färben", korrigiere ich ihn. "Haare wachsen nach."

"Wie du meinst."
Es ist besser so. Mir ist durchaus bewusst, dass mein Vater meine langen, blonden Haare liebte und dass es der entscheidende Grund war, warum Luan nie mehr als die Spitzen geschnitten hatte, doch ich möchte nicht Gefahr laufen, von Lucius erkannt zu werden. Zumal es keine allzu drastische Kürzung ist. Sie reichen mir noch fast bis zur Brust, können noch immer mühelos in einen Zopf gesteckt werden.

Viel fremder ist jedoch das satte Kastanienbraun, das meinen Blondton unter sich erstickt - genau die Farbe, die auch unsere Mutter nutzte, um eine klare Grenze zwischen uns und ihrem neuen Leben zu ziehen. Die aus ihren Überbleibseln hervorgegrabene Farbe war bereits klumpig, beinahe eingetrocknet, doch mit ein wenig Wasser ist sie fast wie neu. Nun erkenne ich das Mädchen im Spiegel selbst kaum wieder, beinahe so, als hätte auch ich einen Schlussstrich gezogen. Mit dieser verfluchten Welt der Magie, mit Lucius, mit Ash. Es gibt nur ein Problem - ich kann den Schlussstrich nicht für ihn und mich ziehen. Wenn Ash will, findet er mich auch so. Ich kann nicht ändern, wie ich rieche oder wie meine Stimme klingt. Ich kann ihn nicht täuschen. Aber immerhin kann ich mir Lucius vom Hals halten. Was passiert, wenn Lucius Ash aussendet, um mich zu finden - darüber mache ich mir lieber keine Gedanken.

Luans Blick streift den meinen im Spiegel, dann widmet er sich wieder meinen Haaren.
"Es wird alles gut, Lia."
Ich will nicken, auch nur ein Wort hervorbringen, doch der Kloß in meinem Hals sitzt zu fest. Wie soll es denn auch gut werden? Sollte jemand den Löwen auf mir entdecken, bin ich geliefert. Sollte Ash mich finden, genauso. Welch eine Ironie, dass er mir aus dem Palast geholfen hat, nur um mich zu seiner Gefangenen zu machen.

"Ich hoffe es", wispere ich, senke den Blick auf meine unruhigen Finger. Es ist das, was Luan hören will. Nicht das, was ich tatsächlich glaube. Er kennt Ash nicht. Er kennt seine Besessenheit nicht. Er glaubt, Ash gibt auf, wenn nur genug Zeit vergangen ist. Er glaubt, dass ich ein Leben führen kann, in dem ich nicht jeden Atemzug damit zu rechnen habe, nicht wieder eines Anderen Eigen zu werden. Ich glaube das nicht. Aber ich kann mich wehren. Und jetzt, da ich weiß, dass Ash nur ein unerbittlicher Lügner ist, werde ich mich nicht davor scheuen.

"Du schaffst das." Luan gibt mir einen Kuss auf den Scheitel, legt die Schere beiseite. "Ich komme nach, sobald ich kann."

Bedrückt nicke ich. Nachdem wir in Riyak eine schwarze Stute geklaut hatten, waren wir den gesamten Rückweg damit beschäftigt gewesen, zu überlegen, wie wir sicher aus dieser Lage kommen. Das Haus unseres Vaters zu verkaufen, hatte zu einer längeren Diskussion geführt, doch er hat sie gewonnen. Dafür habe ich mich mit Simon durchsetzen können. Gut, Luan hatte nichts dagegen, dass ich Abstand von allen Magiern halte, daher gab es nicht sonderlich viel zu debattieren. Und ich erspare mir den peinlichen Moment, in dem ich Simon gestehen müsste, dass er mit Ash Recht hatte. Zudem möchte ich ihnen keine Gefahr sein - und solange ich nicht weiß, was gewisse Magier in Riyak planen, ist dies nicht auszuschließen. Also einigten Luan und ich uns darauf, dass ich nach Sira gehe, eine etwas größere Stadt am nördlichsten Punkt Sonelems, aber nicht zu weit weg von Meral, mir dort eine Arbeit suche und wohne, bis Luan das Haus verkauft hat. Was danach kommt, entscheiden wir, wenn es soweit ist.

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