26 • Talia

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"Du könntest es so einfach hier haben!" Wutentbrannt fährt Lucius zu mir herum, verpasst mir solch eine Ohrfeige, dass mein Kopf zur Seite fliegt, die Wange brennt und der Schlag durch den Raum hallt. Die Wachen haben mich wieder in einen dieser Folterräume gebracht - ob es der gleiche ist, kann ich nicht sagen. Er sieht genauso aus, aber tun sie das nicht alle, um uns in den Wahnsinn zu treiben? "So einfach! Und was machst du? Verletzt Kalian lebensbedrohlich und fackelst alle Akten ab! Denkst du wirklich, dass du damit so einfach davonkommst?"

"Lebensbedrohlich?"
"Wie bitte?"
Lucius runzelt fassungslos die Stirn, ist für einen Moment komplett aus der Bahn geworfen, auch wenn dies nicht beabsichtigt war.
"Kalian", erkläre ich. Meine Lippen zittern, haben Angst auf die Wahrheit zu stoßen.
"Was hattest du denn erwartet?"

Ich schweige. Mir war durchaus bewusst, dass ich ihn verletzen würde, aber lebensgefährlich? Es ist schockierend, was mein Verbleib hier mit mir gemacht hat, mich auf Gedanken gebracht hat, die mir vor wenigen Wochen noch nicht einmal durch den Kopf geschwirrt wären.
"Ist das etwa Reue?" Er beugt sich zu mir, stützt sich auf meinen Knien ab, sodass ich dem zufriedenen Grinsen auf seinem Gesicht nicht ausweichen kann. Als wäre ich kurz davor aufzugeben, als wäre ich genau an dem Punkt, an dem er mich haben wollte.

"Nur mein Gewissen, das mich fragt, warum lebensgefährlich nicht für tödlich ausgereicht hat", zische ich, der bittere Geschmack der Lüge brennt auf meiner Zunge.

"Ich habe dich wohl unterschätzt." Lucius fährt in die Höhe, richtet sich kerzengerade vor mir auf. "Kalian würde sich dennoch sicherlich über deine Hilfe freuen."
"Das klingt so, als hätte ich eine Wahl."
"Ich nehme dir gerne die schwere Entscheidung ab." Er wendet sich ab, beäugt mich dennoch unaufhörlich von der Seite. "Ash kann dir dennoch berichten, wie es sich anfühlt, wenn man sich mir widersetzt."

Mein Kopf zuckt zu ihm und ich weiß augenblicklich, dass ich in seine Falle getappt bin. Er hat mich getestet, wollte wissen, wie Ash und ich zueinander stehen.

"Ich verzichte", bringe ich kühl über die Lippen, um jegliches Missverständnis aus dem Weg zu räumen. Ich hasse ihn. Für seine Rache, seine Drohung, für seine Art mich in die Ecke gedrängt zu haben, sodass ich nur einen Ausweg gesehen habe.

"Böses Blut?" Interessiert zieht Lucius eine Augenbraue in die Höhe. "Das wird Ash nicht gefallen. Immerhin hat er eine ordentliche Strafe dafür eingesteckt, dass er dir einen Gefallen tun wollte."

Ich beiße mir auf die Lippe, weiß sehr wohl, dass Ash sich seines Vergehens bewusst war, als er bereit war, mich im Austausch gegen Simon gehen zu lassen. Wäre da nicht die Tatsache, dass Luan kurz darauf verschwand, hätte ich mich nun vielleicht sogar ein wenig schuldig gefühlt.

"Ash interessiert mich nicht."
Weder ein Kopfschütteln, noch ein Nicken, nur sein durchdringlicher Blick, der sich keine Bewegung entgehen lassen will. "Du warst also nicht wegen Kaya bei den Akten?"
"Kaya? Ich interessiere mich noch weniger für Ashs Liebschaften."

Lucius lacht auf, gibt sich keine Mühe, mein vorgetäuschtes Unwissen aus dem Weg zu räumen. Natürlich. Ihm kommt es zugute, dass Ash keinerlei Ahnung hat, wie es um seine Schwester steht. Das würde ihm sonst einen starken Magier kosten - oder würde Ash auch weiterhin dienen? "Warum dann, Talia?"
"Ist das nicht offensichtlich?" Zum Glück haben wir das Thema gewechselt. Er ahnt auch weiterhin nicht, dass die Antwort seiner Fragen in meinem rechten Schuh verborgen ist. "Seid ihr etwa nicht gerade alle dabei, die Aktensammlung so schnell wie möglich wieder aufzubauen?"

Der Berater schluckt, offenbart mir, dass ich Recht habe. Ich habe ihre Struktur zerrüttet und damit Risse in das Fundament ihres Systems gebracht. Wie werde ich das wohl wieder gutmachen müssen, wenn Ash bereits dafür zahlen musste, dass er mich nicht ausgeliefert hat?

"Lästige Arbeit, aber nichts, was wir nicht in Windeseile wieder hergerichtet haben." Er lügt, möchte mir nicht gestehen, dass Chaos herrscht. "In der Zwischenzeit darfst du dich auch nützlich machen. Nele?"

Eine der zwei Wachen neben der Türe tritt hervor. Die Angesprochene hat nur wenig Feminines an sich - die Haare sind kurz, die Klamotten könnten von dem eines Jungen stammen und auch das Gesicht wirkt grob. Ihr gefühlsloser Blick ist jedoch das, was mich erschrecken lässt - wie haben sie es geschafft, jedem hier einer Gehirnwäsche zu unterziehen? Wie können sie alle so gleichgültig dabei helfen, andere Magier zu verletzen, wenn wir doch die sein müssten, die zueinander halten?
"Nele hilft dir mit Kalian ein wenig auf die Sprünge."

Wie gerufen öffnet sich genau in diesem Moment die Türe und zwei weitere Wachen tragen Kalian herein, lassen ihn auf dem freien Stuhl mir gegenüber ab. Ihn so verletzt zu sehen, ist schlimmer als ich annahm, ruft augenblicklich meine Magie in mir hervor. Er ist nicht mehr der starke Magier, der mir die Narbe auf meiner Haut beschert hat, sondern ein Haufen Elend. Ich wünschte, Schadenfreude wäre das, was ich verspüren würde, doch da ist nur Angst. Angst, dass ich eine Mörderin bin, sollte das Herz in seiner Brust aufhören zu schlagen. Bevor ich selbst reagieren kann, umfasst Nele meinen Kopf, reißt mich nach hinten. Ich schreie auf, weiß nicht, wie mir geschieht. Ihre Hände liegen auf mir, doch ihre Präsenz ist tief in mir, füllt meinen Kopf aus. Er scheint zu explodieren, durch das plötzliche Volumen an seine Grenzen zu kommen. Sie dringt in mein Gehirn ein, bahnt sich ihren Weg in meine Gedanken.

Wie ferngesteuert greife ich nach Kalian, lasse meine Energie auf ihn ab, kann ihrem Drang in mir nicht widerstehen. Ich fühle diese Leere, diese Eiseskälte, dieses tiefe Schwarz in ihm, kämpfe gegen all dies an. Allmählich kehrt Farbe in seinen Kopf zurück, weicht aus dem meinen. Sein Puls wird schneller, meiner langsamer, sein Atem wird lebendiger, meiner ruhiger als er sein sollte. Angst ergreift mich, Todesangst. Ich sehe das Leben in ihm, spüre die Kälte in mir. Ist das der Tod? Hat er bereits nach Kalian greifen wollen? Ziehe ich ihn gerade von seinem auf meinem Körper über? Panisch will ich ihm meine Hand entreißen, doch ich kann nicht. Sie verbietet es mir, sie hat mich im Griff. Ein markerschütternder Schrei entfährt mir, als ich seinen Schmerz spüre, das Stechen in meinem Rücken, das mir Tränen in die Augen treibt.
"Das reicht", höre ich Lucius' Stimme wie aus der Ferne, dann ist auf einmal alles weg. Der Schmerz, ihre Macht über mich, die Hände um meinen Kopf, der Tod. Ich schnappe nach Luft, blinzele die Tränen weg.
Was war denn das?

"Du verdammte-"
Eine Faust fliegt auf mich zu. Ich sehe die vor Wut weiß hervortretenden Knöchel, stelle mich auf eine gebrochene Nase ein, doch Lucius fängt den Schlag kurz vor mir ab.
"Geh in dein Zimmer, Kalian." Der Berater lässt Kalians Hand los. "Erhole dich. Sollte ich dich einmal auch nur in ihrer Nähe erwischen, kannst du dich auf etwas gefasst machen."
"Aber sie-"
"Geh in dein Zimmer."
Die unausgesprochene Warnung in seinen Worten lässt Kalian verstummen. Er wirft mir einen unmissverständlichen Blick zu, kickt den Stuhl weg, dann stürmt er aus dem Raum, begleitet von den beiden Männern, die ihn hierher gebracht haben.
Lucius dreht sich zu mir um und ich weiß, was nun folgen wird. "So, Engelchen, nun zu dir."

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt