55 • Ash

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Wir haben nicht alle Zeit der Welt. Das wird mir sofort klar, als ich mitten in der Nacht durch klagende Schreie aufwache.

Vorsichtig hebe ich den Kopf, darauf bedacht, Talia nicht zu wecken, die mir soeben die Decke stibitzt. Die weit entfernten Schreie reißen sie nicht aus ihrem Schlaf. Auch ich brauche einen Moment, bis meine Sinne geschärft sind und ich die Klagelaute einem älteren Herren zuordnen kann. Weniger jedoch weiß ich den orangefarbenen, durch den transparenten Vorhang schimmernden Nachthimmel zu bestimmen. Also krieche ich leise aus dem Bett, schlüpfe geschwind in meine Hose und werfe einen Blick aus dem Fenster.

Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Lieber noch Talia festgehalten, ihrem friedlichen Atem gelauscht und ihren liebkosenden Duft in meiner Nase wahrgenommen. Denn was ich zu sehen bekomme, ist das komplette Gegenteil - Unruhe, Feindschaft, Hass.

Unzählige Boote steuern den Hafen an, die ersten haben bereits angelegt. Schatten huschen über die Promenade, der Wachturm gleicht einem glühenden Scheiterhaufen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich merke, dass die Schreie verklungen sind, kaum stürzt das Dach hinab und begräbt jedes Leben unter sich.

"Ash?" Verschlafen stützt sich Talia auf die Unterarme, versucht die schmalen Augen ein Stück weit zu öffnen. Ob die plötzliche Leere oder die hellen Flammen sie geweckt haben, weiß ich nicht zu beurteilen. "Woher kommt das Licht?"

"Meral brennt." Fassungslos öffnet sie den Mund, doch ich nehme ihr die Frage ab. "Nicht deinetwegen. Wir werden angegriffen."
"Wie bitte?" Sie schwingt die Beine aus dem Bett, scheint auf einmal zu bemerken, dass sie keinerlei Klamotten trägt und fischt kurzerhand nach ihrem Kleid. "Von wem?"

Mühsam schirmt sie ihren Körper mit der Decke vor mir ab, derweil sie mit der anderen Hand versucht, in ihre Kleidung zu schlüpfen. Obwohl wir nichts mehr voreinander zu verstecken haben, drehe ich mich um, versuche ein Wappen zu entdecken und ihr zugleich die Privatsphäre zu geben, die sie stillschweigend einfordert.

Und ja, es hilft auch meinen Gedanken dabei, jetzt nicht über den unglaublichen Sex nachzudenken. Darüber, wie sie stöhnend unter mir lag, ihre Nägel in meinen Rücken grub - allein diese Vorstellung lässt Blut in Regionen wallen, für die jetzt nun wirklich keine Zeit ist - und jede meiner Synapsen einen absoluten Stillstand erlebte, in dem ich nur allzu gerne weiterhin schwelgen würde. Aber dafür brauche ich wohl unsere Zweisamkeit, wie sie es so liebenswert genannt hatte. Das oder den Tod.

"Es kann nur Payla sein", mutmaße ich, da die Uniformen der Soldaten wenig über ihre Herkunft verraten. Sie sind in einem schlichten Schwarz, vermutlich, um sich möglichst unauffällig in der Nacht bewegen zu können. Um dem gerecht zu werden, hätten sie jedoch auf das Feuer verzichten müssen.
"Warum sollte Payla Sonelem angreifen?"

Talia tritt direkt neben mich und schlägt sich schockiert die Hand vor den Mund, als sie auf die lodernden Überreste des Wachturms blickt. Sie ist sich durchaus bewusst, dass dieses Schicksal vor wenigen Wochen noch ihren Bruder hätte treffen können. "War da...Ist er entkommen?"

Ich schüttele den Kopf, greife eilig nach meinem Shirt und habe meinen Entschluss gefasst. Auch wenn ich mich unweigerlich als Magier zu erkennen geben werde, kann ich nicht tatenlos zusehen, wie Payla versucht, unsere Heimat einzunehmen und die vorherrschenden Machtverhältnisse aus den Fugen zu reißen.

"Ich komme mit." Ohne meine Antwort abzuwarten, wirbelt sie herum, sucht nach ihrem Mantel. "Versuch gar nicht erst, mich umstimmen zu wollen. Selbst als Mensch hätte ich unser Haus verteidigt. Und wenn es mit einem mickrigen Küchenmesser gewesen wäre."

Auf der Promenade herrscht mittlerweile reges Treiben, bis wir die alte Hausherrin davon überzeugt haben, in ihrer Wohnung zu bleiben. Zweifelsohne hat sie Talia erkannt, sie sogar mit ihrem ganzen Namen angesprochen, doch entweder hat die Dame keinerlei Interesse daran, eine beachtliche Summe an Talern einzusacken, oder ihr sind die Plakate bislang entgangen. Dafür hat es umso mehr Zeit gekostet, sie davon abzuhalten, in Richtung Hafen zu stürmen, um nach ihrem Sohn zu suchen. Zumindest hatte Talia etwas dagegen einzuwenden - ich fügte mich, wenn auch der Grund mir fremd war.

InhumanityWhere stories live. Discover now