3 • Talia

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"Und? Wie war's?"

Luan sitzt bereits am Tisch und schöpft mir eine Portion Suppe in die Schüssel. Eilig schlüpfe ich aus den Schuhen, hänge den Umhang auf und setze mich ihm gegenüber, um ihn nicht noch länger warten zu lassen. Ich bin viel zu spät, das weiß ich. Dennoch konnte ich es nicht unterlassen, die nahegelegenen Wege nach dem jungen Mädchen abzusuchen. Dabei bin ich einer älteren Dame und zwei betrunken Herren begegnet, sonst niemandem.

Sie war wie vom Erdboden verschwunden, als hätte sie niemals die Buchhandlung aufgesucht. Der unter meinem Ärmel versteckte blaue Fleck, dort, wo sie mich rabiat gepackt hatte, ist jedoch ein eindeutiges Indiz dafür, dass ich nicht halluziniere. Das und der Besuch des Magiers.

"Ich hatte merkwürdige Kundschaft", erzähle ich. Denn auch wenn mir beinahe ein wie immer über die Lippen gerutscht wäre, weiß ich, dass ich mich ihm anvertrauen kann.

Das war nicht immer so. Als kleine Kinder waren wir wie jedes Geschwisterpaar - ständig zerstritten und doch unzertrennlich.

Er war der Erste, der anklagend auf mich zeigte, wenn unser Vater fragte, wer denn nun wieder den Schlüssel außerhalb des Hauses hatte stecken lassen, aber auch der Erste, der sich schützend vor mich stellte, wenn seine Freunde an meinen langen Zöpfen zogen. Wir hatten uns gehasst und geliebt zugleich.

Dann kam unser Vater eines Abends nicht mehr nach Hause. Auch nicht an dem Abend darauf. Erst drei Tage später wurde der Mast des Schiffes angeschwemmt und beendete die fürchterliche Ungewissheit mehrerer Familien.

Das ist nun vier Jahre her. Vier verdammt harte Jahre, wenn man plötzlich ohne Eltern dasteht. Die schützenden Arme und die warme Liebe einer Mutter hatten wir schon lange nicht mehr gehabt. Manchmal denke ich an sie und frage mich, ob sie noch lebt. Wie sie nun lebt. Ob sie glücklich sein kann, nach dem, was sie uns angetan hat.

An meinen Vater denke ich jeden Tag. Er ist nirgendwo und doch überall.

Anfangs waren die Erinnerungen eine Qual, mittlerweile sind sie Balsam für die Seele. Es fiel mir schwer morgens aufzustehen, den Tag zu leben und abends einschlafen zu können. Ich mag jedoch behaupten, dass es Luan noch schwerer hatte. Er musste nicht nur sein eigenes Leben stemmen, sondern auch mich stützen. Er hielt mich im Arm, wischte mir jede Träne weg und redete mit mir. Keiner war da, nur er. Das hat uns beide verändert.

"Merkwürdig? Inwieweit denn das?"
Luan pustet mehrmals über seinen Löffel, obwohl er sich schon längst nicht mehr an der eher lauwarmen Suppe verbrennen kann.

"Da war ein Mädchen. Völlig aufgelöst und verletzt."
Dass sie durch das Fenster einbrach, lasse ich bewusst außen vor. Solange ich noch nicht weiß, wie ich das Marvin erklären soll, werde ich dieses Detail erst einmal aus meinen eigenen Gedanken verbannen. Das provisorisch befestigte Stück Leder am Fenster muss genügen, um den Laden bis in die Morgenstunden vor dem Sturm zu verschonen.
"Sie wollte sich aber nicht sonderlich gerne helfen lassen."

"Mhm", brummt Luan in Gedanken vertieft. "Vielleicht war es ihr peinlich? Hilfe anzunehmen, bedeutet Schwäche zu akzeptieren."

"Vielleicht", murmele ich, obwohl ich anderes vermute. Sie wollte sich nicht helfen lassen, weil sie genau wusste, dass ihr ein Magier dicht auf den Fersen war. "Kurz nach ihr kam dann ein Magier."
"Lass mich raten: er hat nach dem Mädchen gesucht."

"Genau."
Gut, zugegebenermaßen ist das keine sonderlich überraschende Erkenntnis. Magier bewegen sich für gewöhnlich an den Fronten, um den Palast und dort, wo ihre Hilfe gebraucht wird. Einem von ihnen am hellichten Tage zufällig über den Weg zu laufen, ist eine solche Rarität, dass mir keiner bekannt wäre, dem dies bereits passiert ist.

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