12 • Ash

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Mein erster Tag in Meral ist erfolglos. Dabei starte ich systematisch vom Hafen aus, versuche ein bekanntes Gesicht zu identifizieren, doch von Simon und den Anderen ist keine Spur. Auch die Einheimischen unterhalten sich nicht über außergewöhnliche Ereignisse. Das Treiben der Hafenstadt ist so natürlich wie eh und je, dass es so scheint, als wäre Magie hier ein Fremdwort.

Als ich den ganzen Tag lang die Stadt durchforstet habe und von Magie weiterhin jedes Anzeichen fehlt, präge ich mir das Gesicht des Postboten ein. Sollte ich bis morgen nicht wissen, wer über die Heilung verfügt, werde ich ein wenig nachhelfen müssen. Wie könnte ich denn die Magie besser provozieren, als mit jemandem, der einmal ganz Meral passiert? Ich werde ihm nur auf den Fersen sein müssen und abwarten, wer einer frischen Verletzung nicht widerstehen kann.

Die Nacht ist bereits angebrochen und der Nebel trübt noch immer die Stadt, als ich meine Suche für heute beende - mein Magen protestiert bereits und braucht dringend Nahrung. Gewiss wäre es von Vorteil nun eine Gaststätte aufzusuchen und den Gesprächen zu lauschen, doch meine Synapsen sind kurz davor zu kollabieren. Der Geruch und Lärm einer Schenke würden mir nun den Rest geben.

Also folge ich dem feinen Duft nach Muskatnuss und Zimt, der mich direkt zu einer kleinen Bäckerei leitet. Das Schaufenster ist verziert mit kunstvollem Gebäck aus Holz, zwischen dem bunte Blätter passend zum Herbst ausgelegt wurden.
Ich drücke den Türgriff hinunter und wappne mich für eine Flut an Düften nach Mehl und Gewürzen, doch es bleibt aus.
Mein Blick gleitet zu dem Mädchen, das vor der zu dieser Stunde nur noch spärlich befüllten Theke steht, und ich weiß sofort, warum. Mein Herz schlägt unwillkürlich einen Takt schneller. Am liebsten würde ich mich dafür verfluchen - sie ist ein unwissender Mensch. Doch ihre wohltuende Präsenz macht mich süchtig nach mehr. Süchtig nach ihr.

Aus dem Hinterzimmer dringt eine helle Stimme, doch sie verblasst, als das Mädchen ihren Kopf zu mir umdreht und das blonde Haar auf ihren Rücken fällt. Bevor ich die Ruhe ihres Lächelns in mich aufsaugen kann, ist es verflogen. Trotz dass ich keine Stimmungen spüren kann, hätte ein jeder Blinder diesen plötzlichen Wandel wahrgenommen. Ihre Finger krampfen sich um den Henkel ihres Korbes, derweil ein Ausdruck in ihre Augen weicht, den ich nur als Angst beschreiben kann.
Verdammt, habe ich ihr etwas getan?

Eilig lasse ich unsere Begegnung Revue passieren, doch ich habe sie weder bedroht, noch verletzt. Sie war kooperativ, daher gab es keinen Anlass für eines davon. Warum reagiert sie also so unbehaglich auf mich? Hat es damit zu tun, dass sie weiß, in wessen Dienst ich stehe?
"Verzeiht mir, ihr Beiden. Das Mehl ist umgekippt." Eine rothaarige Bäckerin Ende dreißig stürmt aus dem Nebenzimmer. Um ihren runden Bauch hat sie sich eine Schürze gebunden, die von ihrem Missgeschick zeugt. Ihr Blick passiert mich und haftet sich auf das Mädchen.
"Talia, Liebes!" Ihre Stimme schießt eine Oktave höher, auf ihr Gesicht legt sich eine aufrichtige Freude. "Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen!"

Verstohlen zuckt mein Blick zu Talia. Mir entgeht nicht, wie ihre Hand nervös zu einem Armband gleitet, unbewusst mit den weißen Perlen spielt. Eine von ihnen weist bereits Schleifspuren von der Reibung an einer anderen auf - Talia scheint öfter beiläufig ihre Finger ablenken zu müssen. "Viel zu lange, wie ich sehe."
Da ist es wieder - kein intensiver Zimtgeruch, kein Surren der Lichter über uns, nur der Klang ihrer Stimme. Als wäre ich für den Bruchteil eines Moments befreit. Frei von einem Schwall an Reizen, der mich seit jeher umgibt.

"Ich sehe, du wurdest gesegnet. Herzlichen Glückwunsch."
Der Segen, der einer Frau erlaubt ein Kind zu bekommen - eine Geschichte, die man jungen Mädchen erzählt, bis sie versprochen oder vermählt sind und eigenständig erfahren, dass es keine höhere Macht gibt, die einer Frau den Segen gibt. Dies wiederum bedeutet, dass Talia nicht vergeben ist und ihre Eltern sie lieber im Unwissen lassen.

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