11 • Talia

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Helles Holz bekleidet die Wände des Hauses und fügt sich dem Wald, untypisch für die Gebäude Merals. Neben der Türe hat jemand einen kniehohen, fein geschnitzten Adler platziert, dessen Augen wachsam auf jeden sich annähernden Besucher gerichtet sind. Als Simon einen Schlüssel aus seinem Anorak zieht, scheint es fast so, als würde mich die Holzfigur mit ihrem Blick durchbohren.

"Sie sind alle ganz nett, du wirst schon sehen."
Bevor ich etwas erwidern kann, drückt Simon die Tür auf und ermöglicht einen Blick in das Innere. Über einer edlen Kommode hängen zahlreiche Umhänge. Einer von ihnen streift eine Zeichnung, auf der verschiedene Personen zu sehen sind, die sich lächelnd dem Künstler zugewandt haben. Ich trete näher heran, um die Zeichnung genauer zu studieren, da stürzt bereits ein kleines Mädchen mit prachtvollen Locken auf uns zu.

"Simon!"
Sie streckt ihm ihre Arme entgegen. Der Angesprochene kniet sich hin, um sie kurzerhand hochzuheben und ihr auf die Nase zu stupsen. "So früh schon wach?"
Das Mädchen wippt energisch ihren Kopf auf und ab, dann schwenken ihre Augen zu mir weiter. "Ist sie das?"
"Du kannst selbst mit ihr reden. Sie beißt schon nicht."
Schüchtern weiten sich ihre Augen, derweil sie mit ihren verschränkten Fingern spielt. "Bist du die Heilerin?"

Heilerin. Er hätte mich so vieles nennen können - überforderte Magierin, Brandstifterin oder auch einfach Talia. Warum also hat er sich dafür entschieden? Verwirrt zucken meine Augen kurz zu Simon, der nur wissend nickt. Die Antwort werde ich hoffentlich bald bekommen.

"Du kannst mich auch Talia nennen."
Unsicher kaut sie auf einem Fingernagel. Die Zähne knirschen, als sie abrutscht. "Aja."
"Schöner Name", versuche ich sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Dennoch mache ich mir keine großen Hoffnungen - mit Kindern habe ich keine Erfahrung.

"Aber keiner kennt ihn", murmelt sie und zuckt mit den Schultern. Ihr trauriger Tonfall verrät mir, dass es ihr mehr zusetzt, als sie erlaubt zu zeigen.
"Nicht jeder hat die Ehre einen so seltenen Namen zu tragen", erwidere ich und schenke ihr ein Lächeln. "Das ist etwas Besonderes."
Aja lässt sich meine Worte durch den Kopf gehen, wickelt sich eine dunkle Locke um den Finger. "Dann sind wir beide etwas Besonderes, oder?"
Auch wenn Talia bei weitem nicht so außergewöhnlich ist wie ihr Name, nicke ich. Das Mädchen strahlt, bevor sie zu Simon blickt. "Bleibt sie hier?"

"Talia hat eine andere Familie", meint Simon. "Aber natürlich kann sie so oft kommen, wie sie mag."
Die letzten Worte richtet er mehr an mich als an Aja, doch ich weiche seinem Blick aus. Darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich weiß, wie es hier wirklich zugeht. Denn dass der Schein trügen kann, das habe ich erst an der Wahrheit über den Dienst erfahren.

"Die Anderen frühstücken gerade", unterbricht Aja das Schweigen und macht eine Kopfbewegung zu dem offenen Raum, der vor einer zweigeteilten Treppe abgeht. Aus diesem tritt soeben ein schlanker Mann, vermutlich an die vierzig Jahre. Seine stechend grünen Augen finden meine, das Lächeln auf seinen Lippen bringt sie förmlich zum Leuchten.

"Habe ich doch richtig gehört." Mit energischen Schritten kommt er mir entgegen, bietet mir traditionell seine Hand an. "Ich bin Torin. Willkommen in der Familie."
"Er ist wie ein Vater für uns", wirft Simon erklärend von der Seite ein.
"Talia", stelle ich mich vor und erwidere das Lächeln, derweil mich ein Energiepuls trifft. Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück.

"Verzeih mir." Torin lässt seine Hand sinken. "Ich wollte nur sichergehen, dass deine Aura nicht trügt."
Simon quittiert das mit einem mahnenden Blick, dann beugt er sich zu mir, als Torin sich abwendet. "Er kann deine Stimmung anhand deiner Aura sehen. Eine Berührung macht es ihm möglich, dies genauer zu bestimmen."

"Er kann aber keine Gedanken lesen", flüstert Aja, die unser Gespräch aufmerksam verfolgt und nun die Stimme senkt, als würde sie ein Geheimnis preisgeben. "Wenn du also genervt von ihm bist, weiß er das. Er weiß nur nicht, als was du ihn gerne bezeichnen würdest."

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