32 • Ash

238 49 26
                                    

Sie kann nicht schlafen. Kann ich mir das erklären? Definitiv. Vielleicht fürchtet sie sich davor, dass Lucius jeden Moment das Haus stürmt und sie zurück in den Palast schleppt, oder dass ich es mir anders überlege und sie nun doch als Druckmittel für Simon einsetze - ich weiß nicht, was der Grund ist und doch bewegen sich meine Füße wie von selbst auf das Zimmer zu. Sie braucht ein wenig Erholung, bevor wir uns auf die Suche begeben. In der Ferne höre ich es vier Uhr in Riyak schlagen. Zwei Stunden bereits quält sie sich, zwei Stunden bereits kann auch ich kein Auge zumachen. Leise öffne ich die Tür, verharre auf der Schwelle, um sie keineswegs zu bedrängen.

Obwohl sie mir den Rücken zugewandt hat, weiß ich, dass sie hellwach ist, genauso wie sie weiß, dass sie mir dieses Wissen durch ihre Regungslosigkeit nicht austreiben kann. Ich warte einen Moment darauf, dass sie sich umdreht, aber was würde sie schon sehen? Nur meinen Schatten, nichts weiter, derweil mir das fahle Mondlicht durch den Schlitz der Fensterklappen genügt, dass ich jedes Detail genaustens erfasse. Genau das erschwert es mir, mich zurückzuhalten, hier stehen zu bleiben und ihr die Zeit zu geben, die sie braucht. Ich sehe, wie sie ihre Finger in die Decke krallt, wie ihre Wimpern zucken, als sie versucht mich aus dem Augenwinkel ausfindig zu machen.

"Ich weiß, was diese Angst mit einem macht", bringe ich leise hervor, hoffe, dass es nicht die Angst vor mir ist, die sie wach hält. Ihr Herzschlag wird einen Takt langsamer, ihre Finger lockern sich ein wenig. Ist das ein gutes Zeichen?
Lange regt sie sich kein Bisschen und lässt die Gewissheit in mir wachsen, dass sie sich mir nicht anvertrauen möchte. Auch wenn ich es ihr nicht verübeln kann, wird jeder weitere Atemzug der Stille mehr zur Qual.

"Das Schlimme daran ist, dass ich es verdient habe."
Erleichtert über ihre Offenheit lasse ich mich nieder, komme keinen Schritt näher, um ihr den Freiraum zu lassen. Talia setzt sich auf, zieht die Knie an ihren Körper und schlingt die Arme um ihre Beine. Ihre Augen schnellen zu mir, können gewiss nicht mehr als meinen Umriss ausmachen. Den Türrahmen in meinem Rücken spürend, atme ich tief ein. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was sie dort angerichtet hat, aber keine Taten rechtfertigen die der Berater.

"Niemand hat diese Angst verdient." Vor allem nicht sie.
"Das ist so einfach gesagt." Sie holt Luft, scheint mit dem Gedanken zu spielen, sich mir vollends zu öffnen. Ich warte mit einer Geduld, die ich so nicht von mir gewohnt bin. "Ich habe beinahe jemanden umgebracht."

Das ist es also. Angst, zugleich jedoch auch Schuldgefühle. Ich wage es nicht, für einen Moment meinen Blick von ihr zu lösen. Sie kauert dort, kämpft darum, nicht in Tränen auszubrechen. Am liebsten hätte ich sie in meine Arme gezogen, doch ich weiß nicht, ob meine Nähe und meine Wunde, auch wenn sie beinahe verschwunden ist, ihr nur noch mehr zusetzen würde, also bleibe ich auf dem Boden sitzen.

"Ich wünschte, ich könnte mich selbst dafür hassen, weil ich weiß, wie grausam ich geworden bin, aber ich kann es nicht." Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, bricht zum Ende hin. Nur mit aller Mühe schaffe ich es, an Ort und Stelle zu bleiben, auch wenn mein Herz mir etwas anderes sagt. "Ich kann aber auch ihn nicht hassen, weil ich weiß, dass er keine Wahl hatte."

Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich kann nur annehmen, dass sie von einem Magier spricht, wenn sie meint, dass er keine Wahl hatte. Was zur Hölle hat er mit ihr getan? War er es, der ihr das Brandmal zugefügt hat, oder geht es um etwas Anderes?

"Du bist nicht grausam." Wenn sie wüsste, was ich alles in den vergangenen zwei Jahren angestellt habe, könnte sie mir nicht einmal mehr in die Augen schauen. Wie viele Magier habe ich verraten? Wie viele sind wegen mir umgekommen? Wie viele haben sich selbst verloren? Ich weiß es nicht einmal, habe irgendwann aufgehört zu zählen.
"Auch nicht, wenn ich weiß, ich würde alles genau so wieder machen?"

"Auch dann nicht. Besondere Zeiten-"
"...erfordern besondere Maßnahmen." Könnte ich mich nicht dermaßen auf meine Augen verlassen, wäre mir ihr kurzes, trauriges Lächeln entgangen. "Das hat Luan auch immer gesagt."
"Tut mir leid. Ich wollte keine Erinnerungen wachrufen."
"Du konntest es nicht wissen." Unruhig zieht sie die Decke enger um ihren Körper, als könnte sie sich so von ihren Gedanken abschirmen. "Wie machst du das? Schlafen zu können, obwohl du..."

Sie stoppt, bevor sie die Frage beenden kann und doch weiß ich, was unausgesprochen zwischen uns in der Luft hängt. "...obwohl ich genau das auch schon getan habe?"
Nur mit dem Unterschied, dass ich nicht nur beinahe jemanden umgebracht habe, sondern das Ganze vollendet habe. Der Gestaltwandler vor wenigen Tagen war nicht mein erstes Opfer. Zugegeben, ich gehe auch nur so weit, wenn es mein Leben gegen das andere bedeutet.
"Du hattest es selbst gesagt - Zeit heilt jede Wunde. Auch Reue vergeht allmählich."

Talia kann sich ein weiteres Lächeln nicht verkneifen. "Du hörst mir also doch zu! Ich dachte schon, ich würde gegen eine Wand aus Rachegelüsten reden."
Wenn du nur wüsstest. Es ist nicht so, als hätte ich ihre Worte jemals aus meinem Kopf verdrängen können.

Amüsiert ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe, genieße, dass ich ihre zumindest sichtbare Niedergeschlagenheit vertreiben konnte. "War das etwa eine Prüfung?"
"Die du erfolgreich bestanden hast." Sie lockert den Griff um ihre Beine, streckt sie ein wenig aus. "Ich dachte nur, dass es vielleicht einen Geheimtipp gibt."
Leider nicht. Ein Jeder muss seinen eigenen Weg finden, um mit seinem Gewissen abschließen zu können. Ich weiß jedoch, was Kaya immer geholfen hat, wenn sie nachts nicht schlafen konnte.
"Bin sofort wieder da."

Talia runzelt fragend die Stirn, da bin ich bereits aus dem Zimmer gehuscht. Das Buch liegt dort, wo ich es hingelegt habe, als ich hier eingezogen bin und auch die Kerze steht seit zwei Jahren unberührt daneben.
"Was machst du?"
"Du solltest schlafen. Ich versuche, dir zu helfen." Ich zünde die Kerze an, will nicht ihre Magie dafür beanspruchen, nachdem sie mich bereits geheilt hat. Dann setze ich mich wieder auf den Boden und schlage Kayas Lieblingsbuch auf.
"Du liest vor?"

Ihre Augen durchdringen mich mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Macht sie sich über mich lustig? Findet sie das kindisch? "Ich kann auch gerne wieder gehen, wenn du deine Ruhe willst."
Gerne - wem mache ich das noch vor?
"Nein, bitte bleib", bringt sie hervor, ein Satz, der mich vermutlich noch die ganze Nacht und darüber hinaus verfolgen wird. "Ich war nur überrascht. Luan macht das auch immer."
Je mehr ich über ihn und seine Bindung zu ihr erfahre, umso mehr hasse ich mich dafür, was ich ihr mit meiner Drohung aufgetragen habe. "Ich hätte ihm niemals etwas getan, Talia. Es tut mir leid, was ich gesagt habe."

Sie schweigt, nickt vorsichtig. Einen kurzen Moment lang öffnet sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch dann verwirft sie diesen Gedanken. Stattdessen rutscht sie zur Seite und klopft auf den freien Platz neben sich.
Ich atme einmal tief ein und aus, sammele all meine Beherrschung, bevor ich die Kerze auf der Fensterbank abstelle und neben sie rutsche. Wortlos hebt sie die Decke an, doch ich schüttele nur knapp den Kopf. Sie spielt mit dem Feuer und ahnt nicht, wie nah sie daran ist, sich zu verbrennen.

Bevor meine Gedanken weiter abschweifen können, blättere ich zum ersten Kapitel und beginne zu lesen. Wort für Wort fliegt an uns vorbei, Seite für Seite. Talia lauscht gespannt und lacht auf, als ich meine Stimme verstelle, um den paylischen Akzent der Protagonistin nachzuahmen. Einmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich beobachtet und sofort wieder zur Seite schaut, als ich ihren Blick erwidere. Fragend stocke ich kurz, doch sie schüttelt nur den Kopf. Also lese ich weiter. Solange, bis ihr Atem ruhiger wird, ihre Augen geschlossen sind und ich sicher bin, dass sie eingeschlafen ist.

InhumanityWhere stories live. Discover now