6 • Talia

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Es ist nicht einfach, Magie versteckt zu halten. Unser Alltag ist dermaßen strukturiert, dass alles Ungewöhnliche sofort heraussticht.

Dabei ist es gewiss nicht so, dass das menschliche Volk unentwegt nach Anzeichen von Magie sucht, um die verursachende Person dahinter zu melden. Man sieht es schlichtweg, da die Magier meist zu unerfahren sind, um ihre Kräfte kontrollieren zu können. Gefährlich wird es dann, wenn man nicht entdeckt werden möchte, auch wenn mir dies noch nie zu Ohren gekommen ist. Die Dienste für Sonelem sind eine Ehre.

Außer mir scheint dies für alle Magier zu gelten. Wie passend, dass ich nicht ansatzweise weiß, wozu ich noch fähig bin. Entwurzele ich einen Baum beim nächsten Wutausbruch? Schlägt ein Blitz wahllos in unser Haus ein, wenn ich gereizt bin? Oder verwandele ich Luan in eine Kröte, sollten wir uns erneut streiten?

Ich habe keine Antworten auf all die Fragen und ich bezweifele, dass ich sie je bekommen werde. Viel lieber will ich die Magie aus meinem Leben verbannen.

"Gut geschlafen?"
Luan überreicht mir schwungvoll eine Tasse heiße Schokolade. Ich ziehe den süßen Duft ein und hätte für einen winzigen Moment beinahe vergessen, dass dieser Morgen nicht wie jeder andere ist. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Ästen, welche der Sturm in der Nacht gegen die Fensterklappen geschleudert hat, sondern vor allem an den verrußten Zimmern.

Die Spuren der Magie erinnern mich daran, dass ich mich an die Arbeit machen sollte. Am besten sofort, bevor ich weiteres Unheil anrichten kann.

"So gut es mit dem Sturm eben ging."
"Der war in der Tat wuchtig", meint Luan und seufzt. "Das heißt, dass ich heute vermutlich nicht so schnell nach Hause komme."

Ich nicke. Luan arbeitet bei der Küstenwache und kümmert sich neben der Sicherheit auf dem Meer und der Einhaltung der Handelsrouten von Sonelem zu den anderen Reichen auch um die Beseitigung jeglicher Gefahren. Somit dürfen die Männer zunächst einmal auf der Oberfläche treibende Äste beseitigen, umgekippte Boote stabilisieren und nach möglichen Verletzten Ausschau halten.

Eigentlich wollte er immer sein eigenes Geschäft eröffnen, doch nach dem Tod unseres Vaters gab es für ihn nur eines - im richtigen Moment den Fischern Sonelems helfend zur Seite stehen zu können. Eine Hilfe, auf die unser Vater vergebens gewartet hatte.

"Dann gehe ich heute Abend noch auf den Markt."
"Nein."
Ich lege den Kopf schief. Natürlich, er befürchtet, dass ich mich mit der Magie verraten könnte. Aber die Kontrolle zu bewahren kann doch nicht so schwer sein, oder? Zumal ich nun weiß, was ich mit ein wenig Wut auslösen kann. "Ich werde auch aufpassen."

Luan schüttelt streng den Kopf. "Du gehst nur arbeiten. Auf direktem Weg dorthin und wieder zurück."
"Aber-"

"Kein aber", unterbricht er mich gnadenlos. Dann fährt er sanft fort. "Ich weiß, das ist keine dauerhafte Lösung, aber es ist vorübergehend die sicherste."

Er entnimmt meinem Blick, dass ich ihm zwar zustimmen muss, jedoch nicht will. Das junge Mädchen könnte bereits über alle Berge sein. Jetzt den Hafen oder den Markt zu meiden, wäre ein fataler Fehler. Dort treffen sich die Bewohner, dort werden Informationen und Geschichten ausgetauscht. Wenn jemand weiß wo sie ist, werde ich auf dem Marktplatz meine Antworten finden.

"Wenn du dich dennoch nützlich machen willst, kannst du die verbrannten Dielen im Wald verteilen. Je eher alles wieder normal aussieht, desto besser für uns." Er schlüpft in seine Jacke und gibt mir einen schnellen Kuss auf den Haaransatz, bevor er zur Tür eilt. "Sei vorsichtig, ja?"
"Ich gebe mein Bestes."

Die Menschen sind dermaßen auf die losen Briefkästen, wild verstreuten Bestandteile einer Tageszeitung und zerbrochenen Fenster fokussiert, dass es mir ein Leichtes ist, ohne jeglichen Kontakt in die Buchhandlung zu kommen. Dort wartet Marvin bereits auf mich. Seinen blonden Schopf muss ich dieses Mal nicht zwischen all den Bücher ausfindig machen. Er steht hinter der Kasse und zählt die Münzen. Als ich eintrete, hebt er knapp den Kopf, sein Blick bedeutet nichts Gutes. Das Fenster. Wie konnte ich das vergessen?

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt