61 • Talia

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Der Todesengel ist nicht mehr in der Zelle gegenüber, kaum haben sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Der Tag muss angebrochen sein, dem hauchdünnen Lichtstrahl nach zu urteilen, der sich zwischen den Steinen hindurch stiehlt. Als die nächsten schweren Schritte auf der Treppe erklingen, weiß ich, sie kommen meinetwegen. Dass niemand Geringeres als Kalian persönlich meine Zelle entriegelt, weckt Unbehagen in mir.

Das letzte Mal hatte ich ihn mit einem Pflock in den Rücken niedergerungen und musste für meine Taten büßen. An Verzeihen scheint er noch nicht zu denken, so wie mich sein Blick geradezu zerfleischt als wäre ich die lang ersehnte Mahlzeit nach einem plagenden Ausflug durch die Wüste und zurück.

Er spricht kein Wort und das Schweigen ist beinahe so bedrohlich wie das hinterhältige Zucken seiner Lippen, als er sich ein schadenfrohes Grinsen verkneift. Er weiß etwas, was ich nicht weiß.

Mit flauem Gefühl im Magen laufe ich vor ihm die Treppe hoch, teste das Prickeln meiner Magie in den Fingerspitzen aus. Ihn damit anzugreifen, kann ich vergessen. Mit seinen Fähigkeiten gleicht er einer unverletzbaren Mauer. Dennoch beruhigt es mich ungemein, dass ich Lucius nicht wie ein wehrloses Lamm gegenüber treten werde, da das Kraut der Zeit nicht trotzen konnte.

Dabei bekomme ich Lucius gar nicht erst zu sehen. Kalian dirigiert mich mit knappen Armbewegungen durch den Palast. Es scheint mir, als führe er mich mehrmals im Kreis, aber mein Orientierungssinn ist eine Katastrophe und vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Mit einem Mal packt mich Kalian an der Schulter und ich rechne schon damit, dass er das Feuer auf mich selbst überleitet und sich getrost jeden Anweisungen Lucius' widersetzt, doch sein Hass unterliegt dem Gehorsam. Stattdessen deutet er auf eine schmucklose Tür. Vermutlich einer von Lucius' Folterräumen. Wie sich herausstellt, hätte ich mich nicht mehr irren können.

Die Wände sind in einem warmen Beigeton, große Bogenfenster lassen kitzelndes Sonnenlicht in den hohen Raum dringen, derweil farbenfrohe Stecklinge an Lumien auf den Fensterbrettern thronen. Ich male mir aus, wie ihr Licht den Raum auch in der Nacht wohlig erstrahlen lässt und damit all das verbirgt, was sich auf den zahlreichen Betten präsentiert - Blut, Schmerz, Tod.

Das Stöhnen, Keuchen und Schreien der Magier und Soldaten ist ein Anblick des Grauens, das Payla an unseren Grenzen verrichtet. Ein Arzt, der aussieht als hätte er in Blut gebadet, zerrt die Leiche eines jungen Mannes von der Liege direkt zu meiner Rechten, doch noch ehe sein Arm träge hinunterkippen kann, wird eine junge Magierin bereits auf das Bett gehievt. Mir wird schlecht, als ich die Reihe entlangblicke und die aberdutzenden Betten erblicke, keines davon leer. Im Gegenteil, Kinder teilen sich ihres oftmals, wälzen sich im Blut ihres Nachbarn und begleiten einander in den Tod.

"Dumm herumstehen kannst du auch noch, wenn wir gewonnen haben", knurrt Kalian, verpasst mir einen Schlag in den Rücken. "Magier bekommen immer eine Spritze Johanniskraut. Es verwirkt, bis sie wieder an der Grenze sind. Reine Vorsichtsmaßnahme."

Als würde mir das noch Sorgen bereiten, wenn ich mit bloßem Auge erkennen kann, dass Payla erfolgreicher ist als angenommen. Wie viele tausende Menschen sind bereits umgekommen? Wie viele Magier haben ihr Leben gelassen? Wie weit ist der Feind bereits in Sonelem eingedrungen? Kratzen sie bereits an den Toren des Palastes oder umzingeln sie bislang lediglich Hafenstädte an den Küsten?

Kalians Geduld mit mir ist hinüber. "Muss ich dir jetzt noch deine Aufgabe erklären?"
"Warum sind sie hier?", wirbele ich zu ihm herum und wage es zum ersten Mal, seinem verbissenen Blick standzuhalten. "Warum werden sie nicht an der Grenze behandelt?"

"Es gibt keine Grenze mehr", bringt er knirschend hervor. "Wer noch eine Chance auf Leben hat, wird hierher gebracht. Hier sind die besten Ärzte. Und Heiler. Aurela, auch wenn sie kaum einen gebrochenen Finger heilen, geschweige denn bei einer Stichwunde das Bewusstsein bewahren kann. Midas, immerhin ein wenig besser." Er gestikuliert in Richtung eines jungen Magiers, der sich über eine Frau gebeugt hat. "Und nun auch du."

InhumanityWhere stories live. Discover now