17 • Talia

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Zwei Tage, so wie Simon wollte. Zwei Tage, bis ich etwas tue, von dem mir Luan abraten würde. Nein, er würde es mir sogar verbieten und da er weiß, dass ich meinen eigenen Kopf habe, würde er mich vermutlich zu Hause einsperren. Dies bedeutet, dass mein Schweigen weiterhin bestehen bleibt. Zumindest solange, bis Ash von dieser Idee ablässt. Hoffentlich bald, hoffentlich in zwei Tagen.

"Luan?"
Ich schließe die Türe hinter mir und stehe in Finsternis. Nur das Mondlicht dringt durch das Fenster in der Küche und kleidet die Wände in einem faden Grauton. Hier stimmt etwas nicht.
Ist Luan vor mir zu Hause, lässt er immer ein Licht brennen. Meist versucht er wach zu bleiben, bis ich komme. Manchmal ist er auch schon am Tisch eingeschlafen, doch das Haus wirkte all die Jahre nie wie verlassen.

Sein Mantel hängt nicht neben der Türe, seine Schuhe fehlen auch. Dennoch eile ich die Treppe hinauf, luge in sein Zimmer. Das Bett ist leer, die Decke vom Morgen noch sorgfältig gefaltet. Er ist nicht hier.

Ich unterdrücke das flaue Gefühl in meinem Bauch und kehre in die Küche zurück. Vermutlich ist er bereits auf dem Weg, wurde auf der Arbeit aufgehalten. Um meinen Kopf nicht auf abstruse Gedanken zu bringen, richte ich schon einmal das Abendessen. Danach vergeht die Zeit viel zu langsam.

Ich versuche mich auf die Zeilen eines Buches aus Torins Sammlung zu fokussieren, doch es gelingt mir nicht. Die Worte verschwimmen vor meinem Auge, sodass ich am Ende einer Seite nicht mehr weiß, was ich gelesen habe. Frustiert klappe ich das Buch zu, schiebe es zur Seite und starre die Tür an.

Mich interessiert nicht, welche Spekulationen über die Entstehung der Magie bislang falsifiziert werden konnten oder warum Magie nicht erblich übertragbar ist. Mich interessiert lediglich, dass Luan unversehrt die Tür öffnet und meint Das riecht aber köstlich, selbst wenn ich eine seiner nicht so präferierten Mahlzeiten zubereitet habe.

Aber er kommt nicht.
Ich spiele mit den weißen Perlen meines Armbandes, muss meine hibbeligen Finger beschäftigen. Das Warten ist eine Qual. Die Minuten ziehen sich hin, werden zu Stunden.
Dann schlägt es Mitternacht.
Das kann nicht sein.

Ich habe lange genug gewartet. Zu groß ist die Sorge geworden, um sie noch länger blockieren zu können. Den Mantel übergeworfen und schon steuere ich den Hafen an. Der Weg ist kaum länger als meiner zu Phantasia. Heute kommt er mir jedoch viel zu lange vor. Ich lasse meinen Blick in jede abgehende Gasse gleiten, gehe sicher, dass ich nichts übersehe. Luan bleibt verschwunden.

Die Promenade ist nur spärlich beleuchtet, keine Menschenseele aufzufinden. Nur das aus einer Schenke dringende Grölen und das Licht im Wachthaus deuten auf Leben hin. Die Bretter knarzen unter mir, als ich den Steg entlang der Boote auf die winzige Hütte zulaufe. Der salzige Wind pfeift, weht mir meine Haare ins Gesicht und reizt die Ohren. Ich klopfe einmal, dann ein zweites Mal stärker, da keiner reagiert. Schwere Schritte hinter der Tür.

"Kann ich dir helfen?"
Ein älterer, behäbiger Herr mit schütterem Haar und einer Pfeife im Mundwinkel betrachtet mich fragend. Ich habe ihn hier und dort schon gesehen, doch sein Name ist mir fremd.
"Entschuldigt die Störung, aber ist Luan hier?"

"Ah", brummt er, die Pfeife wackelt bedrohlich. "Vermillion, richtig? Dachte schon, die Augen, Haare. Liegt in der Familie, was?"

Ich nicke kurz angebunden, habe nicht vor auszuführen, dass wir optisch eher unserer Mutter gleichen als Vater. Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, es wäre umgekehrt. "Also, ist Luan noch hier?"

"Tut mir leid, Kleine." Er tritt zur Seite und erlaubt mir einen Blick in die kleine Kammer. An dem Wandhaken hängt eine Jacke, auf dem Tisch steht nur eine Tasse, daneben liegen Karten und Pläne. "Luan ist bestimmt vor drei Stunden gegangen. Wenn nicht schon mehr. Er braucht dringend mehr Pausen."

Dankend nicke ich, lasse meinen Blick kurz über die Boote der Seewacht schweifen. Jeder Poller ist belegt, keiner befindet sich auf dem rabenschwarzen Meer.
Drei Stunden. Egal, was Luan in der Zwischenzeit noch erledigt haben mag, er müsste längst zu Hause sein.

"Hat er irgendetwas gesagt? Wo er noch hingeht? Was er vorhat? Vielleicht-"
"Ganz ruhig, Kleine." Er legt mir sanft eine Hand auf die Schulter. Normalerweise hätte ich die Hand abgeschüttelt, doch die väterliche Berührung spendet mir Beistand. Das erzwungene Lächeln jedoch beunruhigt mich nur noch mehr. Natürlich weiß er, dass ich nur noch Luan habe - die Namen der auf dem Meer Verstorbenen, sind in gesamt Meral kein Geheimnis.

"Er wird schon wieder auftauchen. Geh nach Hause, ja? Wenn er bis morgen nicht da ist, dann wende dich an Sir Cortaz im Rathaus. Er kümmert sich um diese Angelegenheiten."

Das wäre sicherlich keine schlechte Idee, würde dieser nicht Fragen stellen. Wann kommt Luan normalerweise nach Hause? Hat er sich in den vergangenen Tagen auffällig verhalten? Gibt es jemanden, der ihm schaden will? Ich kann ihm wohl kaum erzählen, dass ein dienender Magier Luans Leben bedroht.
Du hast mein Wort.
Ich habe Ash geglaubt. Nein, ich wollte ihm um Luans Willen glauben können. Das habe ich nun davon.

"Ist das eine Karte Sonelems?"
Der Mann dreht verwirrt den Kopf, als wüsste er nicht ganz, was er mit diesem plötzlichen Themenwechsel anfangen sollte. "Und ein Teil des Meeres nach Payla."
"Dürfte ich kurz?"
"Selbstverständlich."

Ich trete hinter den Tisch, von dem die Wachmänner Ausblick auf den Hafen Merals, die Boote und die enge Passage der Bucht haben. Kein Boot gelangt unbemerkt hierher. Die Karte ist bereits abgewetzt, doch die Namen der Städte sind problemlos zu entziffern. Den Palast finde ich sofort - eine Krone markiert die Hügel neben Sonelis, dem Zentrum Sonelems. Eilig scanne ich die rundherum gelegenen Städte ab, Namen, die mir unbekannt sind. Riyak. Ich beuge mich über die Karte, gehe sicher mich nicht geirrt zu haben. Nur ein Stück westlich von Sonelis liegt das Dorf, daneben breitet sich ein See aus. Mein Blick wandert nördlicher, bis zu dem roten Punkt, der Meral markiert.

"Wie lange braucht man nach Sonelis?", frage ich an den Wachmann gewandt, derweil ich die Route verinnerliche. "Mit einem Pferd."
"Ohne Pause etwa einen Tag." Er legt die Pfeife beiseite. "Das kann Luan nicht so schnell geschafft haben."
Luan nicht. Ash schon.

"Danke vielmals."
Ich will aus der kleinen Kammer eilen, als er nach meinem Arm greift.
"Luan kommt nach Hause, da bin ich mir sicher."
Du weißt nicht, was ich weiß.
Beharrlich wartet er auf eine Reaktion meinerseits, also nicke ich. Jetzt ein Wort über die Lippen zu bringen, hätte den bitteren Beigeschmack einer Lüge und den erspare ich mir lieber.

Der Wind peitscht mir die Haare ins Gesicht, als ich in Richtung Bäckerei stürme. Lucia und ihr Mann besitzen, im Gegensatz zu den meisten Bewohnern Merals, ein Pferd. Ich kann nur hoffen, dass sie es mir für wenige Tage leihen werden, so lange, wie ich nach Riyak und zurück brauche. Solange, bis ich weiß, was zur Hölle Ash mit meinem Bruder gemacht hat.

Oder ich hole mir Luan.

Dieser Mistkerl hat es getan und damit sein eigenes Wort gebrochen. Krümmt er meinem Bruder auch nur ein Haar, fackle ich ihm all seine und noch mehr ab.

Aufgewühlt klopfe ich an den Seiteneingang der Bäckerei, der diese mit der Wohnung darüber verbindet.
Lucia hatte sicherlich nicht erwartet, dass ich nach Mitternacht vor ihrer Haustüre stehe, als sie meinte, ich solle mich wieder einmal hier blicken lassen. Sie wird mir die Störung mitten in der Nacht aber verzeihen, das weiß ich.

"Komm schon", murmele ich, klopfe nochmals und sehe, wie ein Licht im Stockwerk über mir angeknipst wird.
Jede Minute kann entscheidend sein, kann eine zu viel sein. Vielleicht ist es aber auch schon zu spät. Eine Bewegung Ashs genügt und Luan ist verloren.

Schwere Schritte auf der Holztreppe hinter der Türe.
Endlich.

Ich lege mir gerade die Worte auf der Zunge zurecht, um mein unangekündigtes Erscheinen zu dieser Stunde zu rechtfertigen, da werde ich grob zur Seite gezogen. Eine Hand presst sich auf meinen Mund, erstickt jedes Geräusch. Die Türe geht auf, Licht fällt auf die Gasse. Ich werde um die Ecke gezogen, stemme verzweifelt die Füße zwischen die Pflastersteine.

Voller Panik will ich schreien, will mich bemerkbar machen, beiße mit aller Kraft zu. Ein Zischen, die Hand lässt abrupt von mir ab.
"Hi-"
Ein Schlag. Direkt an die Schläfe. Gezielt, vielmehr gekonnt. Ich taumele, versuche mich an der Hauswand festzukrallen, dann wird mir schwarz vor Augen.

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt