48 • Ash

201 37 28
                                    

"Nur um eines klarzustellen: dieser Kuss hat nichts bedeutet. Absolut nichts."

Dir nicht. Mir hingegen mehr, als gut für mich ist. Weil für einen Moment die Talia zu erkennen war, die nicht ihren Erinnerungen vertraut. Die, die nach meiner Hand gegriffen hat und mich heilte. Die, die nicht versteht, warum ihr Herz so verräterisch schnell pocht, obwohl ihr Kopf ihr vorschreibt, mich zu hassen. Sie ist verwirrt, verunsichert und untergräbt es unter der Vernunft.

"Ich verlange nicht, dass du ehrlich mit mir bist, aber belüge wenigstens nicht dich selbst."
Talia wirbelt zu mir herum. "Was soll denn das heißen? Als ob es mir gefallen würde, deinen Speichel abzubekommen!"

"Warum hast du es dann überhaupt getan?"
"Warum hast du es getrunken?", entgegnet sie, bleibt erst stehen, als wir um die Ecke gebogen sind, die furchtbar laute Bar hinter uns gelassen haben. Und diesen Typen, der sich hemmungslos alle Mühe gegeben hat, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. "Damit ich wieder deine treudoofe Gefangene spielen darf?"

"Nein." Ich seufze. "Ich werde dir keine Bedrohung sein."
"Und das soll ich glauben?"
"Nicht dein Kopf." Ich trete näher, wage mich gefährlich nah an sie. Dabei ist sie unberechenbar, würde mich am liebsten zu einem Haufen Asche machen, wäre da nicht der Widerspruch in ihr. "Doch dein Herz glaubt mir. Sonst würde ich gerade lichterloh brennen."

"Ich habe dich nur noch nicht am lebendigen Leib verbrannt, weil ich nicht weiß, was du mit Luan getan hast."
"Du lügst."
"Du hast keine Ahnung!", faucht sie.
"Auch wenn es dir nicht gefällt - ich weiß es. Ich kenne dich, Talia. Ich kenne selbst das kaum sichtbare Zucken deines linken Augenlids, wenn du versuchst zu lügen."

Frustriert weicht sie zurück. "Dann bin ich eben die Lügnerin. Wenigstens weißt du jetzt, wie es sich anfühlt, niemals die Wahrheit zu erfahren."
"Wäre es so schlimm, die Wahrheit auszusprechen?"
"Das fragst du noch?" Vorwurfsvoll zeigt sie auf mich. "Ich war dir die Wahrheit einfach nicht wert, oder? Du hast nur an dich gedacht."
"Das stimmt nicht", widerspreche ich, weiß, dass ich diese Diskussion verloren habe. Ich kann sie unmöglich von dem Gegenteil überzeugen, habe nicht die Macht dazu. "Lass es mich erklären. Bitte."

"Wozu die Mühe? Ich habe letztendlich keine Wahl. Wenn deine Magie wieder zurück ist, ..."
Sie holt Luft, ihre Stimme bricht. Ein Stich fährt mir quer durch die Brust, zieht sie eng zusammen, als sie so verloren und verletzt vor mir steht. Ich will sie in den Arm nehmen, ihr versprechen, dass sie nichts vor mir zu befürchten hat, aber es zählt nicht. Weil ich in ihrem Kopf ein selbstsüchtiges Monster bin.

"...werde ich dich gehen lassen. Jetzt. Morgen. Wann auch immer. Wenn du möchtest, werde ich mich von dir fernhalten."
Als ob ich das könnte.

"Ich verstehe dich nicht." Sie wischt eine vom Wind ins Gesicht verirrte Haarsträhne zurück. Ein sattes Braun - das mag sie vielleicht vor Lucius gerettet haben, hat mich jedoch keinen Augenblick täuschen können. Genauso wenig wie mich die junge Frau in der Bar täuschen konnte - die abseits gestandene Flasche, der würzige Geruch nach Johanniskraut. "Warum?"
Ja, verdammt, warum? Wenn es doch nur so einfach zu sagen wäre.

"Du hast mich einmal gefragt, warum ich das für dich mache. Meine Antwort war nur die halbe Wahrheit."
Sie schnaubt. "Das wundert mich nicht."
Das hilft nicht, Talia. Ich versuche gerade die richtigen Worte zu finden, passende Worte zu finden. Etwas, woran ich nur scheitern kann.

"Die ganze Wahrheit ist, dass ich nie eine Chance hatte, dir zu widerstehen. Du hattest mein Herz seit wir uns das erste Mal in dieser kleinen Buchhandlung begegnet sind. Ich habe lange versucht, es mir selbst nicht einzugestehen, dich aus meinen Gedanken zu verdrängen, doch ich konnte es einfach nicht." Sie verengt die Augen, hört aufmerksam zu. "Weil ich jedes deiner Worte, jedes Lachen, jede noch so kleine Berührung, jeden Moment deiner endlosen Herzlichkeit und ja, auch jeden Moment deiner Sturköpfigkeit liebe. Weil ich liebe, dass du so menschlich geblieben bist, obwohl dir dein menschliches Leben genommen wurde. Weil ich dich liebe."

InhumanityWhere stories live. Discover now