40 • Talia

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Meine Augen brauchen mehrere Momente, bis sie sich an die drückende Dunkelheit gewöhnt haben. Der plötzliche Wechsel aus dem Tageslicht in das alte Gebäude bekommt ihnen nicht gut, dennoch erkenne ich die massigen Pfosten, die das Dach stützen. Der Boden ist dreckig, staubig, zeugt davon, dass das Lager vermutlich schon länger verlassen ist. Den Splittern in den Ecken nach wurde hier Holz bearbeitet, möglicherweise zu Möbeln. Doch ich widme mich nicht länger den Spuren der Vergangenheit, verenge die Augen.

In der Mitte des Raumes kniet ein Mann. Gegen das Licht durch die große Glasfront mir gegenüber nehme ich nichts weiter als seine Silhouette wahr und doch glaube ich zu erahnen, dass seine Arme streng auf den Rücken gedreht sind. Ist er gefesselt?

Bedacht setze ich einen Fuß vor den anderen, stoppe sofort, als er träge den Kopf hebt. Wohin ist Kaya so plötzlich verschwunden? Und wo bleibt Ash?
"Lia."

Mein Herz bleibt fast stehen. Seine Stimme, sein Spitzname für mich. Das kann nicht sein. Oder doch?
"Luan?", hauche ich tonlos, habe Angst, er verschwindet, sollte ich seinen Namen laut aussprechen. Ein weiterer, vorsichtiger Schritt nach vorne. Sein Gesicht liegt im Schatten, erlaubt mir keinen Blick in seine Augen und doch bin ich mir sicher. Die Art, wie er die Schultern bewegt, als er versucht, seine Arme zu befreien, die Weise, wie er frustriert seufzt, als es ihm kein Stück gelingt. "Oh mein Gott, Luan."

Ich stürze nach vorne, bremse abrupt ab, kaum bemerke ich sie. Kaya lehnt an einem der Pfosten zu meiner Linken, völlig gelassen und unbekümmert. Was bedeutet das? Ist sie etwa verantwortlich für das Ganze hier? Dafür, dass Luan gefesselt ist? Hatte sie ihn etwa Tage, nein, Wochen bei sich?
"Schön dich endlich kennenzulernen, Talia."

Mein Blick huscht unruhig zwischen meinem Bruder und ihr hin und her, kann das mulmige Gefühl tief in mir nicht verleugnen. Ash hatte Recht - irgendetwas ist faul. Ganz gewaltig faul. Luan dreht den Kopf zur Seite, offenbart zahlreiche Blessuren um sein Auge. Ich hole entsetzt Luft, mag mir nicht vorstellen, was noch unter seinen Klamotten verborgen ist. Was ihm widerfahren ist. Was sie mit ihm gemacht hat.

"Warum?", hauche ich, bringe nicht mehr hervor. Warum richtet sie meinen Bruder so zu? Meinen Bruder, der keinerlei Magie besitzt und nur meinetwegen in diesem Zustand ist?

Sie tritt neben Luan, legt ihm eine Hand auf die Schulter. Es sieht so falsch aus, so bedrohlich. Zweifelsohne, sie ist der Grund, warum Luan verschwunden ist. Aber warum sollte sie das tun?
"Dazu kommen wir noch." Sie neigt den Kopf kaum merklich. "Ich hatte gehofft, dass ich dich nicht hineinziehen muss. Weder deinen Bruder, noch dich."

Bestimmte Schritte auf dem Boden, dann steht Ash neben mir. Ich muss den Kopf nicht wenden, kann den Blick nicht einen Moment von Luan abwenden, und doch weiß ich, dass er es ist. Obwohl ich mich frage, warum er so lange hierher gebraucht hat, beruhigt es mich ungemein, ihn neben mir zu wissen.

"Kaya." Ash klingt nicht annähernd so erfreut darüber, sie wiederzusehen, wie ich es mir erhofft hatte. Wie er es sich vermutlich selbst ausgemalt hatte. "Lass sie gehen. Beide. Was auch immer du willst, können wir zwischen uns klären."

"Dazu ist es zu spät. Zwei Jahre zu spät, Ash." Sie läuft hinter Luan auf und ab, dreht etwas in ihrer Hand. Als sich das Licht auf der Klinge spiegelt, mich geradewegs blendet, erkenne ich das Messer. Schlagartig wird mir schlecht. Vor Panik, voller Angst um Luan. "Weißt du, Talia, Ash ist ein fantastischer Bruder. Ein fantastischer Bruder, solange man lebt, wie es ihm passt. Nie werde ich wieder so viel Liebe erfahren, wie bei ihm, aber da ist das Problem. Mein Bruder ist besessen."
"Liegt wohl in der Familie", wirft Luan ein, schüttelt kaum merklich den Kopf.

"Damit schlage ich mich schon seit Wochen herum." Kaya schnalzt genervt mit der Zunge, richtet die Klinge auf Luan. "Zurück zum Thema - ich weiß nicht, wie viel er dir über unsere Kindheit erzählt hat, aber ich habe ihn geliebt. Wie Luan dich zu lieben scheint - wir sind eine Familie, wir hatten nur uns."

InhumanityWhere stories live. Discover now