36 • Talia

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Mein Schlafrhythmus ist völlig hinüber. Nachdem ich näher am Morgengrauen als an Mitternacht schlafen gegangen war, steht die Sonne schon im Zenit, als ich barfuß aus dem Zimmer tapse. Der Platz neben mir im Bett war frei und keinerlei Falten im Laken deuteten darauf hin, dass Ash nachgekommen war.
"Du hast also doch nicht im Bett gesch-" Ich erstarre, blinzele ungläubig. "Was zur Hölle?"

Die haselnussbraunen Haare erkenne ich schlagartig - Simon. Er sitzt da einfach, in Ashs Haus, auf seinem Stuhl und dreht die Froiden hin und her. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.

"Wo ist Ash?"
Vorsichtig ein Schritt nach vorne, unsicher darüber, ob ich mich freuen soll, ihn wiederzusehen, oder ihn doch lieber anschreien will, nachdem er mich Ash das letzte Mal zum Fraß vorgeworfen hat.
"Die Pferde zurückbringen und anderweitige Geschäfte verrichten." Er deutet auf ein Stück Papier. "Laut seiner Notiz zumindest."
Bereits mit reichlich Abstand erkenne ich Ashs Namen am unteren Ende, bete, dass er nicht hier auftaucht, bevor Simon gegangen ist. Klar, dass Kaya zu leben scheint, macht einiges einfacher, aber dennoch kann ich nur zu gerne auf jede Eskalation verzichten. Auch wenn ich zugleich hoffe, dass Ash nicht plant, Lucius zur Rede zu stellen.

"Lass die Vase los."
Im nächsten Moment zerschellt das Porzellan auf dem Boden, zerbricht in duzende Scherben. Erschrocken, vielmehr entsetzt, öffne ich den Mund, starre auf den Scherbenhaufen, auf die wild verteilten Froiden, dann zu Simon. Keinerlei Reue in seinen Augen. Es war pure Absicht, ein Zeichen dafür, wie wenig er von Ash hält. Nur, dass das für mich weitaus mehr als nur ein halbherziges Geschenk war.

"Bist du von allen guten Geistern verlassen?"
Ich stoße ihn nach hinten, direkt gegen den Tisch.
"Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Tagelang, jede noch so verdammte Minute! Und du? Lass mich raten - du hast nicht einmal darüber nachgedacht, nach Meral zu kommen, nicht wahr?"
"Du hast mich im Stich gelassen!"
"Wirklich?" Er presst mir ein Stück Papier gegen die Brust, bringt mich mit der Wucht beinahe aus dem Gleichgewicht. "Das ist dein Weg aus dem Ganzen. Das habe ich gemacht, damit du Ash nicht mehr hinhalten musst. Aber ganz gegen deinen Willen scheinst du das nicht erst gemacht zu haben."

Meine Finger umschließen das Papier. "Was auch immer das ist, es ändert nichts daran, dass du mich-"
"Ich war ein Idiot."
"Ist das eine Ausrede oder eine Entschuldigung?"
Ein tiefer Atemzug, um die Wogen zu glätten. "Es tut mir leid, Talia. Ich hätte nicht so reagieren dürfen und ich bin heilfroh, dass Will für dich da war, als ich es nicht war. Das wird nicht mehr vorkommen." Er deutet auf die Scherben neben uns. "Aber das ... das bereue ich nicht. Ash und seine Spielchen - du bist nur eine Herausforderung für ihn, ein kurzweiliger Reiz. Das möchtest du nicht sein."

"In zwei Jahren kann sich viel ändern."
Simon verzieht das Gesicht, als würde ihn die Vorstellung plagen. "Und doch kenne ich ihn besser. Ash lässt dich fallen, wenn es ihm nicht mehr reicht, was du ihm geben kannst. Ich will nicht, dass er dich verletzt."

"Deine Warnung ist angekommen." Unsere Augen liefern sich ein Duell, dem sich keiner geschlagen geben möchte. Wir beide glauben die Wahrheit zu kennen, aber nur einer wird Recht behalten. Für einen winzigen Moment ertappe ich mich an dem Gedanken, was es bedeutet, wenn ich mich irre. Nein. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, so lange, dass sich Persönlichkeiten von Grund auf ändern können.

Ich schaue zuerst weg, falte den Zettel auf und gehe stirnrunzelnd die wenigen Stichpunkte darauf durch. Eine Liste mit äußerst merkwürdigen, teils exotischen Zutaten, nicht mehr.
"Ist das...?"
"...was du von Anfang an haben wolltest." Simon nickt. "Der einzige Weg, um Magie vollends zu vernichten."
Völlig baff schnellt mein Blick zwischen dem Zettel und Simon hin und her. Es ist so viel in den vergangenen Tagen passiert, dass ich nicht einmal mehr darüber nachgedacht habe, was wäre, wenn ich keine Magie mehr hätte. So viel, dass ich aber nur umso mehr weiß, dass das ist, was ich will. Mein altes Leben zurück, zumindest in Ansätzen, solange Luan noch immer spurlos verschwunden ist. Alles, was ich dafür brauche, sind sechs Zutaten. Nichts weiter.

Ein Ton der Euphorie dringt mir über die Lippen, dann erst verarbeite ich seine Worte. "Zu vernichten?"
"Torin und ich haben nur das gefunden. Wie du die Magie weitergeben kannst, ist uns noch immer ein Rätsel."
"Das wird wohl die beste Lösung sein", vermute ich. Die Heilung weiterzuleiten, würde bedeuten, einer Person in voller Absicht eine Last aufzutragen, die ich keinem wünsche. Ich glaube, wenn das meine einzige Option wäre, dann würde ich die Magie behalten, jetzt, da ich weiß, wie grausam das Bevorstehende sein kann. Aber sie zu vernichten? Lucius das zu nehmen, was er fanatisch begehrt? Nur zu gerne.

Bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, was Ash davon wahrnehmen wird, habe ich Simon in eine Umarmung gezogen. Überrascht zögert er einen Moment, legt dann seine Arme um mich, zieht mich näher.

"Danke dir. Euch beiden."
"Immer wieder gerne", murmelt Simon an meinen Haaren und vergräbt seine Hand in ihnen, als er mich am Kopf packt und ihn an seine Brust bettet. So stehen wir für einen Moment da und auch, wenn es Grund genug dagegen gäbe, freut sich ein winziger Teil in mir, dass er hier ist. Dass ich den Magier wiederhabe, der mich an der Hand genommen und in die Welt der Magie eingeführt hat, manchmal sogar wortwörtlich. Und noch mehr freue ich mich darüber, dass er mir einen Weg hinaus zeigt.

"Würdest du denn jemals deine Magie vernichten?"
"Nein." Ich höre seine Stimme bis tief in seinen Brustkorb. "Nicht, weil ich nicht ohne könnte, sondern weil es einen Haken gibt."

Abrupt schrecke ich zurück, löse mich von ihm.
"Das hört sich nicht gut an."
Simon verzieht gequält den Mund, zögert. "Vielleicht ist dir Ash tatsächlich mehr von Vorteil als du denkst."
"Wie meinst du das?" Immerhin hat er keinen Hehl daraus gemacht, seine Abneigung gegenüber Ash zu demonstrieren. Was ändert nun seine Meinung?
"Die Magie ist ein Teil von uns, von dir. Um zu überleben, dass du sie verlierst, muss auch dein Körper dazu bereit sein."
"Oh, ich verstehe", werfe ich ein. "Das Gleichgewicht zwischen Körper und Magie halten - ich verliere etwas, ich brauche von etwas anderem umso mehr."

"So funktioniert das nicht. Je mehr du von deiner Magie forderst, umso mehr muss auch dein Körper strapaziert werden."
Panisch schüttele ich den Kopf, reiße die Augen weit auf. "Ich gehe sicherlich nicht noch einmal zu Lucius, zurück in den Palast."
"Nicht physisch. Dein Kopf, deine Psyche, deine Gefühle müssen dafür bereit sein."
Mir gefällt ganz und gar nicht, welche Richtung dieses Gespräch genommen hat. "Welche Art von Gefühlen?"

Wie gehemmt öffnet Simon den Mund, schließt in wieder. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich versuche, sein Schweigen zu deuten. "Wenn ich die Magie verlieren möchte, muss ich jemanden verlieren, ... den ich liebe? Damit ich die Balance zwischen Magie und Gefühlen halten kann?" So sollte mir Ash also behilflich sein - wenn er mir schon das Herz bricht, dann gewinne ich wenigstens mein Leben zurück. Fassungslos schüttele ich den Kopf, dränge ihm den Zettel auf, doch er wehrt ihn ab. "Niemals."

"Das ist dein Ausweg aus dem Ganzen." Simon greift nach meiner Hand, umfasst sie und schaut mir so tief in die Augen, dass ich den Atem anhalte. "Du wolltest ihn, jetzt hast du ihn."
Es gäbe nur zwei Personen, die mir das Herz brechen könnten - Luan und Ash. Keinen davon will ich verlieren, bei keinem bin ich bereit, ihn zu verlieren. "Das ist kein Ausweg. Das ist...das ist es nicht wert."
"Ich spreche nicht von Luan."
"Und ich spreche nicht nur von Luan", stelle ich klar, kann meine Gedanken kaum ordnen. Natürlich hatte ich es mir nicht leicht vorgestellt, aber das? Das ist keine Option.
"Talia, ich möchte ja nicht, dass du ihn dafür umbringst. Ich möchte nur, dass du bei dir hast, was du brauchst, wenn ich mit Ash Recht habe."

Wenn, nicht falls, ein so sicheres Wort, dass mir beinahe schlecht wird vor Angst davor, dass er ins Schwarze getroffen haben könnte. Dass Ash mir so viel Leid bringen wird, dass es reicht, um die Magie zu vernichten. Ich nehme einen tiefen Atemzug, auch wenn mir seine Worte die Kehle zuschnüren. Mein Blick gleitet zu den Scherben, zu Simon, irrt wild umher, such nach Halt in meinen wirren Gedanken.
"Versprich es mir."
"Das kann ich nicht."

"Dann versprich mir wenigstens, dass du dir Gedanken darüber machst."
Als ob ich mir keine Gedanken darüber machen könnte! Ich starre auf den Zettel, wünschte, ich würde mich noch immer so darüber freuen, als in dem Moment, in dem mir Simon sagte, was das ist. Doch es ist wie alles im Leben - alles hat seinen Preis. Manchen ist man bereit zu zahlen, manch anderen möchte man nicht zahlen und hin und wieder muss man zahlen, auch wenn man nicht bereit dafür ist.
"Ich verspreche es."

InhumanityWhere stories live. Discover now