60 • Talia

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"Vermillion, geh nach Hause."

Ich starre einem Mann in die Augen, den ich schon des Öfteren in Meral gesehen habe. Sir Cortaz, ein Mann mittleren Alters, normalerweise ummantelt von Papieren und Dokumenten in der stickigen Luft des Rathauses. Umso verwirrter bin ich darüber, ihn hier in der bereits tief stehenden Sonne anzutreffen. Es muss mit dieser Mappe zu tun haben, die er unter seinen Arm geklemmt hat.
"Das Leck ist noch nicht gerichtet."

Luan?
Entgeistert fahre ich zu ihm herum, erstarre, kaum schwingt er sich gekonnt aus dem Boot in das seichte Wasser, in dem sich winzige, silbern schimmernde Fische tummeln. Er ist jünger. Das Haar noch einen Stich blonder, die Muskeln an seinen Oberarmen treten noch nicht so deutlich hervor wie sonst. Es scheint, als sei er um zwei, vielleicht auch drei Jahre in der Vergangenheit zurückgereist. Fassungslos greife ich nach einer meiner Haarsträhnen - ein blasses Braun bis knapp an die Brust. Nicht meine blonden Haare vor wenigen Jahren.

Dann schnellt mein Blick zu den unversehrten Häusern Merals um uns herum. Gepflegte Fassaden lassen die Hafenstadt in ihrer Farbenpracht einladend erstrahlen, bunte Blumen wiegen sich in der Sommerbrise. Es ist nicht Winter, Meral unversehrt und Luan jünger.

"Wie ist das möglich?"
Ich greife nach seinem Arm, doch Luan fährt in seiner Bewegung fort, als habe es meine Berührung nie gegeben. Er schüttelt meine Hand nicht ab, er schaut nicht einmal zu mir, er verhält sich, als wäre ich Luft. Als würde er mich nicht sehen, nicht spüren, während meine Hand seine von der Sonne erhitzte Haut tangiert.

"Du hast Feierabend, Junge. Das Leck kann bis morgen warten." Sir Cortaz tritt näher, mir genau in die Fersen. Doch anstatt sich zu entschuldigen, gleitet sein Blick geradewegs durch mich hindurch. Als wäre ich nicht da.
"Was ist hier los?" Obwohl Luan eine zutiefste Abneigung dagegen hegt, zwicke ich ihn in den Arm, doch er zuckt nicht einmal mit der Wimper. "Luan?"

"Nun gut." Unter kratzenden Schleifgeräuschen zieht mein Bruder das Boot in den Kies, sodass es nicht vom Meer davon gespült werden kann. "Dann morgen."
"Lass dich nicht ausnehmen, Vermillion, ja? Niemand dankt es dir hier, wenn du Überstunden machst." Sir Cortaz legt meinem Bruder eine Hand auf die Schulter, stößt mich rücksichtslos aus dem Weg. Keiner der Beiden reagiert, als ich stolpere, Wasser meine Socken tränkt, der Stoff an meinen Zehen klebt. Widerliches Gefühl. So authentisch und doch so surreal. Denn das hier ist nicht echt.

Luan würde mich niemals derart ignorieren. Ganz im Gegenteil, er hätte unseren Stadtherren trotz des Machtgefälles für dieses Verhalten zur Schnecke gemacht. Dabei war es keine Absicht. Sir Cortaz ist dafür bekannt, sich um jede Seele Merals zu sorgen. Jeder ist es wert, respektiert zu werden. Mich einfach so aus dem Weg zu stoßen, kann nur einen Grund haben: ich bin nicht wirklich hier. Das ist nur einer dieser verflixten Träume, vor denen mich das Mädchen im Kerker gewarnt hat.

Nur eines bereitet mir umso mehr Sorgen - wenn mir diese Halluzinationen nicht gefallen werden, warum sehe ich dann Luan? Warum führt es mir nicht schonungslos meine Naivität mit Ash vor Augen? Wie er ihr Glück ist? Wie er ihr Worte ins Ohr raunt, die er auch mir vorgegaukelt hat? Wie kann etwas aus Luans Vergangenheit noch grausamer sein?

"Das bedeutet nicht, dass ich dir nicht danke. Du hast dich gut gemacht, Luan." Der Mann schenkt meinem Bruder ein würdigendes Lächeln. "Im Übrigen, deine Schwester genauso. Meine Frau war gestern in Phantasia. Sie meinte, man hätte sie dort noch nie mit so viel Herzblut beraten. Es ist schön zu sehen, dass es euch besser geht."
"Vielen Dank." Luan streckt den Rücken durch, scheint durch die anerkennenden Worte geradezu seinen Mut wiedergefunden zu haben. "Ich werde es Lia ausrichten."

Unser Stadtherr nickt, richtet sich seine streng gepflegte Frisur mit einer Handbewegung wieder zurecht, nachdem der Wind ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Ich hingegen beäuge Luan von der Seite. Er hat es mir nie ausgerichtet. Was muss auf dem Weg nach Hause vorgefallen sein, dass er dies verdrängt hat? "Wir sehen uns, Vermillion."

InhumanityWhere stories live. Discover now