41 • Ash

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Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht, was ich weiß. Ich starre auf die Scherben, auf die zerbarste Hoffnung, die Magie zu vernichten, und verfluche mich selbst dafür, dass ich nicht mit ihrer Reaktion gerechnet habe. Das war ihre Chance, genau der Schmerz, den sie braucht ohne Luan wahrhaftig verloren zu haben.

"Berechtigte Frage."
Kaya verschränkt die Arme vor der Brust, betrachtet zufrieden ihr Werk. Sie will zu weiteren, giftigen Worten ansetzen, doch ich lasse sie nicht dazu kommen.
"Talia." Vorsichtig lasse ich mich neben ihr nieder, halte dennoch genug Abstand, weil die Verachtung in ihren Augen einzig und allein mir gewidmet ist. Nicht Kaya, mir. Und ich verstehe es - sie glaubt, ich habe sie im Stich gelassen. Ich muss diesem Irrtum ein Ende setzen, kann diesen unendlichen Schimmer der Enttäuschung in ihren sonst so strahlenden Iriden nicht länger ertragen. "Das ist nicht Luan."

Talia schluchzt, ihre Finger beben, ihr Körper zittert. "Was?"
Nur ein Hauch, mehr bekommt sie nicht hervor. Ungläubig streichen ihre Finger über sein Haar, dann weiter vom Ohr hinunter bis zum Kinn, suchen nach einem längst in diesem Körper verschollenen Lebenszeichen.
"Es ist nur eine Illusion. Wills Illusion."

Mein Blick streift suchend die Pfosten ab. Ich rieche Will und den Geruch, der auch in ihrem Haus in Meral zu riechen war. Beide sind hier, dem Sichtbaren verborgen und doch zu nah, um mich täuschen zu können. Nur, dass Talia ihren Bruder nicht wahrnimmt. Will hat eine überzeugende Inszenierung mit einem unschuldigen Menschen geschaffen. Jemand, der sein Leben verlor, damit Talia glaubt, es wäre ihr Bruder. Warum auch immer. "Es ist alles gut. Das ist nur Magie."

Desorientiert irrt ihr Blick zwischen Kaya, mir und der Leiche hin und her, derweil sie meine Worte verarbeitet. Sie braucht mehrere Atemzüge, verunsichert von dem, was sie sieht und dem, was sie weiß. "Wer ist dann das?"
"Irgendein Mensch", wirft Kaya ein, zuckt belanglos mit den Schultern. "Will, du kannst dich zeigen. Ich habe, was ich wollte."

Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, erscheint Will nur wenige Schritte entfernt, daneben Talias gefesselter Bruder. Abgesehen von wenigen Blutergüssen scheint er unverletzt zu sein, aber wer weiß, was seine Klamotten verstecken? Talias Blick schnellt ungläubig zu mir. "Du wusstest es?" Sie schüttelt den Kopf, als würde sie die Frage nur zu gerne zurücknehmen. "Natürlich wusstest du, dass er hier ist."

"Ich weiß nur nicht, warum", erkläre ich, greife nach dem trägen Kopf in ihrem Schoß und schiebe den Tod von ihr. Die Kaya, die ich vor zwei Jahren verloren habe, hätte niemals das Leben eines unschuldigen Menschen riskiert, gar zerstört, um zu bekommen, was sie will.

"Ash wusste nicht nur, dass Luan hier ist. Er wusste die ganze Zeit, wo er ist", wirft Kaya ein.
Ich verenge die Augen. "Woher sollte ich?"
Kaya wendet sich an Talia, lässt meine Frage unbeantwortet in der Luft hängen. "Was hat mein Bruder zu dir gesagt, als er dich aus Lucius' Torturen befreit hat?"

Dass wir Luan finden werden. Weil ich keinen Hauch einer Ahnung hatte, wohin er verschwunden war. Weil ich Talia mit meiner Drohung den Boden unter den Füßen weggezogen hatte und mich trotz meiner Unschuld schuldig fühlte. Weil ich sie glücklich sehen will. Mein Blick löst sich keinen Moment von Talia, als sie den Mund öffnet, zu einer Antwort ansetzt und stockt. Ihre Stirn legt sich in Falten, ihre Finger schnellen zum Armband. "Ich...weiß nicht."

"Doch, du weißt es", pflichtet Kaya ihr bei, derweil mir ein eisiger Schauer den Rücken hinab läuft, mich ein grausamer Gedanke plagt. Das kann nicht sein. Oder doch?

Talias Blick wandert über mich, ihr blankes Entsetzen trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube, dann rutscht sie panisch weg. Weg von mir. Nein, nein, nein. Bitte alles. Nur nicht das.
"Du...wie kannst du nur?"

InhumanityWhere stories live. Discover now