70 • Ash

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"Sie raubt mir den letzten Nerv."
"Sie bringt dich zum Lachen", widerspreche ich.
"Trotzdem. Sie ist unausstehlich." Will lugt über meine Schulter, doch gibt sich keinerlei Mühe, die paylischen Wörter des Romans zu entziffern. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, den rasenden Herzschlag, den nur der Klang von Minas Namen hervorruft, auf die Wut und weniger auf seine Gefühle zu schieben. "Ich meine, der Spruch gestern war unter der Gürtellinie."

"Du hast sie damit aufgezogen, dass sie mit dem Feind sympathisiert", werfe ich ein und hebe das Buch in die Höhe. "Das hier."
"Der paylische Wälzer? Ich muss dir wohl Schmerzensgeld dafür zahlen, dass du ihn mir vom Hals schaffst, Bursche." Eine graue Haarsträhne rutscht unter dem Tuch hervor, das sich die ältere Dame um den Kopf geschlungen hat. "Wurde heute schon oft genug dafür beleidigt. Der ist jetzt dein Problem."

Da Widerspruch aussichtslos erscheint, ziehe ich ein paar Taler hervor, lege sie auf den morschen Stand zwischen uns und ziehe Will weiter, bevor die Verkäuferin protestieren kann. Nur weil das Buch auf Paylisch geschrieben wurde, ist es noch immer ein Buch und hat somit einen Wert. Etwas, was Sonelem nicht mehr anerkennt. Talia hatte sich die letzten Abende darüber aufgeregt, dass sie nicht nur sämtliche paylische Bücher, sondern auch diejenigen aussortieren und verbrennen musste, deren Autoren dort geboren wurden.

"Ein Buch kann doch nichts für Paylas Regierung", hallt ihre Empörung noch immer in mir nach. "Anstatt dass man sie auf dem Speicher lagert, werden sie im Norden zum Heizen benutzt!"
Ich verstehe sie. Uns geht ein Gedankengut verloren, das nicht ansatzweise mit dem Krieg in Verbindung steht und doch ist der Hass, den Sonelems Bevölkerung auf Payla hat, in Anbetracht der im Blut gebadeten Dörfer an der Küste genauso verständlich.

"Kann man ja nicht verleugnen! Wenn ich dich daran erinnern muss, wollte sie deren Tote mit unseren Schiffen zurückschicken", katapultiert mich Will aus meinen Gedanken. Nein, daran muss ich sicherlich nicht erinnert werden. Nachdem Payla die Leichen nicht abholte, da sich das Gerücht eines Hinterhalts nicht stoppen ließ, wurden sie ebenfalls im Scheiterhaufen verbrannt. "Am besten leert sie gleich noch die Landeskasse, um sich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen."

"Sieh es als Vorteil: vielleicht hätte ein Schiff deinen vermutlich noch immer auf der Oberfläche treibenden Daumen entdeckt."

"Ha ha." Will verdreht die Augen, doch seine Lippen zucken, als er sich ein Grinsen mühsam verbietet. "Fang bloß nicht auch so an. Mina reicht mir."
"Du musst nicht mit zu mir, wenn du ihr nicht über den Weg laufen möchtest."

Mein bester Freund kratzt sich im Nacken, wie immer, wenn er etwas völlig Anderes sagen möchte, als er tatsächlich hervorbringt. "Dachte, ich schaue mal wieder nach meinem Feuerteufel."
"Wegen dem Spitznamen-"
"Ich weiß." Er seufzt. "Ich gebe mein Bestes, ihn vorerst nicht mehr zu gebrauchen."
"Danke."

Es lässt sich nicht verleugnen, dass Talia jede Nacht schweißgebadet aus einem Albtraum hochschreckt, der sie daran erinnert, wie viele Tote ihre Magie forderte. Über zwei Wochen ist es nun her und doch greife ich jede Nacht zu ihren Büchern, um sie in den Schlaf zu lesen. Ich bezweifele, dass es in naher Zukunft besser wird.

Selbst wenn Luan zu Besuch ist und ich mich auf das Sofa verdrücke, reißt mich irgendwann in den dunklen Stunden ihr Schrei aus dem Schlaf. Manchmal erzählt sie mir von den zerfetzten Gesichtern, die sie in ihren Träumen heimsuchen, oder von Familienmitgliedern, die ihre Rache einholen wollen, doch meistens schweigt sie. So wie ich über Kaya schweige. Und es ist okay so. Weil Zeit alle Wunden heilt und wir irgendwann darüber sprechen können. Nur noch nicht jetzt.

"Wie läuft das Training?"
"Sie lernt schnell."
Stolz flutet meine Adern, wenn ich an die rasante Steigerung ihrer Geschwindigkeit denke, die mir gestern Abend meine Magie abverlangte, sodass ich ihren Bewegungen mit dem Schwert folgen konnte. Dennoch wundert es mich nicht wirklich, wenn ich daran denke, wie gezielt sie ihre Magie in kürzester Zeit beherrschte. Nur ihr Knöchel bereitet mir mehr Sorgen als er sollte. Obwohl die Schwellung zurückgegangen ist, sind die Schmerzen keinerlei besser geworden. So wie sie die Lippen zusammenpresst, um jeglichen Laut zu ersticken, glaube ich ihr zweifelsohne.

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