16 • Ash

264 43 25
                                    

Das gravierte Holzschild verkündet in geschwungener Schrift, dass die Buchhandlung geschlossen ist, dennoch ist die Tür nicht verriegelt.

Als ich eintrete, sitzt Talia auf dem Boden. Um sie herum sind Bücher verstreut. Für gewöhnlich versuche ich mit aller Kraft meine Sinne zu entschärfen, um den neuen Eindrücken Stand halten zu können. In ihrer Präsenz bereitet es mir hingegen Mühe, meine Sinne zu gebrauchen. Jeder Schritt könnte eine Falle sein, jede Bewegung muss abgesichert werden. Meine Sinne wollen nachgeben, doch ich erlaube mir das nicht. Ihr Herzschlag erfüllt die Stille, ihr Duft den Raum. An ihr haftet eine frische Note Sandelholz, doch es ist viel zu wenig. Simon ist nicht hier.

"Mein Wort bin ich nur bereit zu erfüllen, wenn auch du deinen Teil vollbringst."
Talia hebt den Kopf. Meerblaue Augen, so unschuldig und rein. Augen, die mich für einen Moment vergessen lassen, warum ich hier bin. Augen, die mich auf Gedanken bringen, die ich nicht haben sollte. Sie steht auf der anderen Seite. Jetzt ist keine Zeit dafür, mich ablenken zu lassen.

"Eigentlich sollte ich dir sagen, dass ich Simon nicht finden kann." Sie notiert etwas auf einem Blatt Papier, dann klappt sie das Buch zu, das in ihrem Schoß ruht. "Wir wissen Beide, dass das nicht stimmt."

Sie weiß über meine Magie, über meine Sinne. Wie viel mehr hat sie noch in Erfahrung gebracht?
Geschwind verstaut sie das Buch im untersten Fach des Regals, reiht daneben die anderen Bücher ein. Als sie aufsteht und das knielange Kleid glatt streicht, weht ihr rosiger Duft zu mir. Ich wende den Kopf ab. Macht sie es mir absichtlich schwer, klare Gedanken fassen zu können?

Ich lehne mich gegen ein Regal und verschränke die Arme vor der Brust, als könnte ich so ihre Nähe abblocken. "Und eigentlich wollte ich dir mein Beileid aussprechen. Kaya verloren zu haben, muss furchtbar gewesen sein. Dann habe ich aber bemerkt, dass du nicht zögern würdest, mir meinen Bruder zu nehmen."
Diese verfluchte Drohung. Worte, die ich niemals ausführen könnte. Worte, die ich nur gebraucht habe, um sie unter Druck zu setzen. Der Schmerz in ihren Augen hätte mich schier nachgeben lassen. Wäre da nicht dieser Trieb in mir, dieser Durst nach Rache. "Ist das nicht paradox? Simon für etwas zu verachten, was du auch machst?"

"Du willst es darauf ankommen lassen, mir ins Gewissen zu reden? Keine gute Idee, wenn dir dein Bruder lieb ist."
Dass er das ist, daran zweifle ich nicht. Sie hat nur ihn. Kaya würde mich dafür hassen, dass ich dieses innige Verhältnis zerstören könnte.
"Warum sollte ich versuchen, dir ins Gewissen zu reden, wenn ich weiß, dass du keines hast?"

Es kostet mich alle Mühe, meine Lippen von einem amüsierten Grinsen abzuhalten. "Ganz schön mutig, mich zu provozieren. Oder töricht, wie man es sieht."
"Töricht wäre es nur, wenn ich dir nichts bieten könnte."
"Da Simon nicht hier ist, bist du wertlos für mich."
Lüge.
Talia verengt die Augen. "Und du bist für mich nur ein Opfer deiner Gefühle. Wie wäre es aber, wenn du mir erst einmal zuhörst, ohne voreilig zu reagieren?"

Ich lege den Kopf schief. Ihrer Stimme würde ich am liebsten den ganzen Tag lauschen, doch ich lasse mir dies nicht anmerken. Der tief eingesessene Hass gestattet mir keine Schwäche, obwohl sie soeben personifiziert vor mir steht. Reiß dich zusammen.
"Ich höre."
Talia erwidert stur meinen Blick. "Wie ich schon sagte - du bist Opfer deiner eigenen Magie. Zeit heilt jede Wunde, aber nicht deine. Das Problem ist, du suchst nach der falschen Medizin."

"Denkst du etwa, ich hätte nicht nach Kaya gesucht?"
"Denkst du etwa, das hätte ich nicht angenommen?", erwidert sie und zieht skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. "Solange aber keine Leiche gefunden wurde, gibt es Hoffnung."
Sie meidet meinen Blick, betrachtet die Regale als wären sie plötzlich furchtbar interessant. Da wird es mir bewusst - sie hat die Hoffnung schon einmal verloren. Der Körper wurde gefunden, der Wunsch auf ein Wiedersehen vernichtet.

InhumanityOnde histórias criam vida. Descubra agora