46 • Talia

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Die Schneedecke vor dem Gasthof ist noch unberührt, als ich aus dem Bett krieche. Geschlafen habe ich kaum - viel zu wild wirbelten meine Gedanken in meinem Kopf herum, ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Dennoch kämpfe ich mich auf meine Beine, um nicht zu spät an der Bibliothek einzutreffen. Ein kurzer Blick in den gesprungenen Spiegel, ein kleiner Moment des Schreckens über meine braunen Haare - daran werde ich mich wohl nie gewöhnen -, dann winde ich meine Finger durch die verknoteten Strähnen. Die Bürste habe ich in Meral vergessen. Das ist jedoch nicht weiter tragisch, wenn man bedenkt, dass die vom Meer gleitenden Windböen jede Frisur in wenigen Zügen zerstören.

Da die Wirtschaft des Gasthofs, in dem ich nächtige, erst zur Mittagszeit öffnet, muss ich woanders mein Frühstück auftreiben. Auf dem Weg zum Hafen husche ich kurz in eine Bäckerei, die mich bereits auf der Gasse mit einem verlockenden Geruch nach warmer Butter empfängt, bevor ich der Promenade folge. Die Stände der Händler sind mit robusten Planen abgedeckt, deren Enden laut im Wind peitschen und sich zum Hämmern eines Schmiedes gesellen. Sonst scheint Sira noch zu schlafen.

Ich kehre ein wenig Schnee von einer Bank, dann verschlinge ich hungrig das noch warme Brötchen, während der Wind an meinem Mantel zerrt. Zwei Fischer gestikulieren an den Bootsanlegern mit ihren Händen immer wieder Richtung Meer, diskutieren vermutlich darüber, ob sie es hinaus in des Meeres Höllenschlund wagen sollen oder nicht. Trotz ihrer Liebe für das Abenteuerliche, für das Unbekannte in den Tiefen des Meeres und des Wunsches auf den besonderen Fang kehren sie dem Meer einvernehmlich den Rücken zu und flicken abgenutzte Stellen ihrer Boote, die ihnen sonst als Leck zum Verhängnis werden könnten.

Luan würde es lieben, hier zu sitzen, diesen Anblick zu genießen. Die Ambivalenz des Meeres, die ihn so sehr fasziniert, habe ich jedoch nach dem Tod unseres Vater nur noch als grausam angesehen - das Brechen der sanften Wellen an Steinen, die unscheinbare Macht des Wassers im Zorne eines Sturmes. Luan liebt beide Seiten - es gehört zur Natur, pflegt er zu sagen. Nicht dass dies das Unglück schmälern sollte. Auch er hatte nach dem Verlust zu kämpfen, eben auf seine Art und Weise. Diese lag in der direkten Konfrontation - bloß keine Angst vor dem Meer entwickeln, vielmehr Achtung.

Ich klopfe die Krümel meines Frühstücks vom Umhang, dann mische ich mich unter das erste Getümmel an Menschen, die sich auf den Weg zu ihrer Arbeit machen. So wie auch ich. Zu meinem Glück war die ältere Besitzerin der Bibliothek gestern nach Einbruch der Dämmerung noch anzutreffen. Auf einen Gehstock gestützt, hatte sie mich zwischen den Regalen hindurch geführt und mir mit strahlenden Augen erklärt, wo welche Bücher verstaut sind. Weniger begeistert war ihr Enkel - wobei seine Begeisterung nicht durch die Struktur der Bibliothek, sondern durch meine Anwesenheit gemildert wurde. Auch heute wirft Janek mir nur einen schrägen Seitenblick zu, als ich ihn begrüße. Katharina hingegen kommt mir grinsend entgegen, hakt sich bei mir unter, wirft ihrem Enkel den Gehstock zu und führt mich mitten in das Paradies an Büchern - oder ich sie, wie man es eben sehen mag.

"Schön, dass du da bist, Liana."
Für einen kurzen Moment meine ich Janek ein Nicht grummeln zu hören, doch als ich ihm über die Schulter einen Blick zuwerfe, legt er scheinbar ahnungslos den Kopf schief. Gewöhnungsbedürftig - ja, so kann man die Menschen hier durchaus bezeichnen. Lorena hatte Recht. Immerhin fällt Katharina mit ihrer ansteckend guten Laune und Offenheit vollkommen auf. Positiv zum Glück. Wäre nur ihr Enkel da gewesen, hätte ich dieses Gebäude vermutlich nie wieder freiwillig betreten.

"Wir öffnen mit dem ersten Glockenläuten des Hafens und schließen, wenn die Sonne untergeht."
"Und danach kümmern wir uns um diejenigen Bücher, die verarztet werden müssen", fahre ich fort, nutze ihren Wortlaut vom gestrigen Abend.
"Ach verflixt nochmal, hatte ich das schon erklärt?" Sie fasst sich an die Stirn. "Ich sag's dir, Liana, es ist schlimm. Aber solange ich es erkenne, krepiere ich noch nicht."

InhumanityWhere stories live. Discover now