58 • Talia

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"Wir sind da."
Der Zwerg quetscht meinen Kiefer, dreht meinen Kopf von links nach rechts und begutachtet mich von allen Seiten. "Ein wahres Prachtstück. Fast zu hübsch, um dich dem König zu übergeben, ohne vorher auszutesten, wozu du noch so fähig bist."

Ich könnte kotzen.

Die letzten Stunden habe ich mir bereits diese Anrüchigkeit anhören müssen. Die letzten Stunden bereits gluckert das Johanniskraut tief in mir, hat meine Magie komplett lahmgelegt und mir keine Möglichkeit gegeben, um mich vor seinen Händen zu schützen, die scheinbar zufällig hin und wieder meine Brust streifen. Er nutzt meine fehlende Magie und die gefesselten Hände schonungslos aus. Dreckskerl. Doch nicht einmal dies kann ich ihm an den Kopf schleudern, da jeder Laut im Knebel erstickt.

Obwohl Lucia ihm eine deutliche Warnung ausgesprochen hatte, ja die Finger von mir zu lassen, schert ihn das kein wenig. Genauso wie es ihn nicht interessiert, dass sie morgen Abend auf der Lichtung im Wald auf ihn warten wird, damit das Kopfgeld geteilt wird. Er wird nicht auftauchen. Nicht, weil ich ihm seine Hände abhacke, wie es sich gehören würde, sondern weil er jeden einzelnen Taler für sich einsteckt.

Dabei sieht der Zwerg so harmlos aus - wie ein Zwerg eben. Fast so klein und schmal wie ich, sehr untypisch für einen Mann. Luan und Ash würden ihn um einen ganzen Kopf überragen. Der weiße Bart und sein trügerisch liebes Lächeln spielen ihm in die Hand. Sein Charakter macht hingegen wieder alles zunichte. Wenigstens hat er seine Worte nicht in Taten umgesetzt. Ich hätte mich wahrhaftig übergeben.

Rabiat stößt er mich vor sich her, die Treppen hinauf in diesen Geruch, der mir nur allzu bekannt ist. Es scheint fast so, als sei die abstruse Kreuzung aus Bienenwachs und modrigem Geruch nach Pilzen in die Wände gekrochen und nie wieder hervorgekommen. Weniger bekannt ist mir das hektische Hin und Her der Damen und Herren in weißen Kitteln, die meisten mit mehr oder weniger alten Blutspuren darauf. Es ist so ein Gewusel, dass ich überrascht bin, mit welcher Zielstrebigkeit sie von Raum zu Raum irren, scheinbar die völlige Kontrolle haben. Selbst die Aufnahme der verletzten Soldaten und Magier direkt im Empfangsbereich läuft reibungslos ab. Man könnte fast meinen, der Angriff auf Sonelem wäre vorhersehbar gewesen. Nur eine Frage der Zeit. Genauso wie es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich Lucius wiedersehe.

Umso erleichterter bin ich, dass er nicht der Erste ist, den ich zu sehen bekomme. Seitdem uns der Zwerg mit einem vorlauten "Ich präsentiere die Heilerin" bereits duzende Schritte vor dem Palast ankündigte, flankieren uns mehrere Wachen mit ihren Hellebarden. Mein Bauch rebelliert bei jedem Schritt, der Magen krampft bei der nur kleinsten Bewegung.

Wie konnte sich Ash mit einer viel größeren Menge auf den Beinen halten und sich nicht durch seine Mimik verraten? Es wird mir immer mehr ein Rätsel. Die Tatsache, dass er es dabei nicht einmal für sich, sondern für mich getrunken hat - ich hasse mich selbst dafür, dass ich vergangene Nacht nicht sagen konnte, was ich sagen wollte.

Die Wände des Palastes kreisen uns vollends ein, verdrängen meine Gedanken. Mühsam schiebe ich einen Fuß vor den anderen, schaue nicht auf, als uns schnellere Schritte entgegenkommen. Nicht die eines Arztes. Ich würde Lucius' polierte Schuhe auch so unter tausenden wiedererkennen.
"Du hättest zu keiner treffenderen Zeit kommen können, Engelchen."

Lucius möchte noch näher treten, da quetscht sich der Zwerg zwischen uns.
"Moment einmal. Ich habe sie gefunden. Ich erwarte die Bezahlung."

Du Mistkerl hast mich weder gefunden, noch einen Anspruch auf das Geld. Ich fluche in den Knebel, doch Lucius scheint sich sein eigenes Bild über die herrische Stimmlage des Zwerges gemacht zu haben. Seinem Blick nach zu urteilen, lässt er sich nicht gerne herumkommandieren. Natürlich nicht. Er ist ein Fanatiker der Kontrolle. Der Macht.

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