63 • Talia

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Simon zu küssen ist ... anders. Gelinde gesagt.

Fremd. Meinem auf Ash gepolten Körper zuwider. Irgendwie so falsch und doch genau richtig.

"Talia", haucht Simon atemlos gegen meine Lippen, doch ich schüttele den Kopf.
"Sag nichts", bitte ich ihn. Sag einfach nichts, weil jedes Wort mir meinen Fehler vor Augen führt. "Du hattest Recht."

Simons Daumen streicht über meine Wange, als müsse er sich versichern, dass das wirklich ich bin. "Einsicht ist immer gut - besser spät als nie."

Zaghaft neige ich den Kopf zur Seite, wage einen Blick in die Meute. Es ist, als würde er aus dem Rauschen um ihn herum geradezu hervorstechen. Vielleicht ist es genauso, weil er völlig erstarrt ist, das Schwert ihm beinahe aus der Hand rutscht.

Er schaut zu uns, nein, zu mir. Und ich weiß, er hat alles mitangesehen, jede noch so kleine Berührung, den stürmischen Kuss. Seine Augen sind gezeichnet von blankem Entsetzen. Erschütterung. Verrat.

Der unermessliche Schmerz in seinen glanzlosen Iriden schleudert mir unverhohlen entgegen, was ich angerichtet habe: ich habe nicht nur sein Versprechen, all meine Küsse bis in die Ewigkeit für sich einzufordern, vor seinen Augen mit den Füßen getreten, sondern es ausgerechnet mit dem Magier bespuckt, der ihm sein Leben bereits einmal in Scherben zerstückelte.

Das Schlimme daran? Ich würde es immer wieder so machen.

Ehe Simon meiner Neugierde folgen kann, packe ich ihn am Kinn und verhake unsere Blicke ineinander.
"Ash hat dich nicht verdient", raunt er mir zu, seine Lippen so nah an meinen, dass ich glaube, ihre Wärme zu spüren.

"Können wir bitte nicht über ihn reden?" Ich fuchtele ziellos in der Luft herum, muss meine Gedanken auf andere Wege bringen. "Zumal reden gerade eh nicht die beste Überlebensstrategie ist."

Wie aufs Stichwort prallt die Wucht einer unsichtbaren Kraft ungebremst gegen mich, katapultiert mich mehrere Schritte nach hinten. Mein Fuß stolpert ins Leere, knickt kurz darauf auf der nächsten Treppenstufe um. Ich presse die Lippen aufeinander, um den Schrei zu ersticken, als stechender Schmerz durch meinen rechten Fuß zieht. Vor meinen Augen nimmt Will Gestalt an, fängt sich am Geländer ab, greift nach meinem in der Luft rudernden Arm und bewahrt mich davor, dass ich sämtliche Treppenstufen hinabpurzele.

"Alles gut?"
Mein Fuß fühlt sich an, als wäre ich barfuß über glühende Kohle geschritten. Dennoch zwinge ich mich zu einem Nicken, weil ich fürchte, dass nur ein Zeichen meiner Schmerzen über die Lippen gleitet, sollte ich zu einer Antwort ansetzen. Vermutlich habe ich das verdient.

"Tut mir leid", murmelt er daher, lässt seinen Blick über das Getümmel schweifen. "Diese Windhexe hat es auf mich abgesehen."

Bevor ich fragen kann, wen er damit meint, bekomme ich ihre Magie zu spüren. Der plötzliche Sturm peitscht Will die Haare ins Gesicht, schneidet mir meinen Atem ab und reißt uns gnadenlos von der Treppe.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht fühlt es sich an, als würde mein Kopf zerschmettern, kaum pralle ich auf den Boden. Für einen winzigen Moment weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist, sehe nur Schwarz vor meinen Augen. Erst als sich meine Sicht klärt, komme ich wieder ganz zu mir, rappele mich auf und ducke mich reflexartig unter einem Arm hindurch, der mir einen Dolch in die Kehle jagen will. Feuer züngelt auf meinen Fingerspitzen. So werde ich nicht sterben.

Als er erneut ansetzt, spüre ich einen Griff an meinem Hals. Keine Bedrohung, vielmehr eine Warnung.
"Sie ist mein Vergnügen", höre ich einen schätzungsweise jüngeren Mann auf Paylisch sagen. Kein Schwert, kein Dolch, nur seine bloßen Hände auf meinem Hals.

InhumanityWhere stories live. Discover now