56 • Talia

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Die Asche der Menschen wirbelt mir auf dem Weg zu Luan ins Gesicht. Angewidert presse ich die Lippen aufeinander, kann die Trockenheit im Rachen nicht länger ausstehen. Meral ist ein lodernder Kessel, Schreie und Tod brodeln in der Luft. Es ist ätzend. Abartig. Traurig.

Mit klammen Fingern ziehe ich mir die Kapuze über die Haare - das Meer ist zu dieser Jahreszeit eine Qual. Immerhin hat das Feuer meine Klamotten halbwegs getrocknet, doch die Starre nagt an meinem Körper. Nicht, dass ich mich beschweren darf. Ich lebe. Das kann nicht jeder mehr behaupten, der sich noch vor wenigen Stunden friedlich schlafen legte.

Vorbei an einem Mann, der Richtung Hafen stürzt, hinein in eine voller Menschen wimmelnde Gasse. Schreie, Verzweiflung, Panik. Nicht, was ich wollte. Nicht mein Weg zu Luan.
"Nein, bitte, bitte nicht!"

Auch wenn ich bereits auf dem Absatz kehrt machen will, lässt mich Lucias Winseln nicht kalt.
"Bitte!"
Ein verzweifeltes Schluchzen folgt ihrem Flehen, dann entziffere ich das Treiben vor mir. Lucia versucht das in Stoff eingewickelte Kind zurückzuerobern, doch die zwei Männer blocken sie ab.

"Sei froh, dass wir dich am Leben lassen, Weib", fährt sie der Eine an. Ich reiße mich aus meiner Starre, kann nicht unbeteiligt zuschauen.

Nicht, wenn ich nur mit dem Finger schnipsen muss und Feuer über ihre Körper tanzt - nun ja, ein wenig mehr Anstrengung verlangt es mir dennoch ab. Aber als Ash vor mir stand, beinahe sein Leben für mich ließ, ist die Energie in mir explodiert. Seitdem jagt sie durch meine Adern, lässt sich keine Pause. Auch nicht, als ich hinter den Ersten trete und meine Flammen auf seinem Rücken ranken. Seine Jammerlaute hätten Ash sicherlich die Sinne zersprengt, doch ich überlasse ihm seiner Schmerzen und widme mich dem Anderen. Dieser zückt sein Schwert, das Kind auf seinem Arm wackelt bedrohlich.

"Vorsicht!", kreischt Lucia, kneift die Augen zusammen, vermutlich um nicht hinschauen zu müssen.
Die Klinge glüht auf, verbiegt sich unter der sengenden Hitze und sackt in sich zusammen. Solange das Kind aber noch auf seinem Arm ruht, darf sich meine Magie nicht an ihm selbst vergreifen. Zu groß ist die Gefahr, dass ich meine Energie nicht steuern kann. Immerhin wollte ich auch Ashs Angreifer nicht in Brand setzen, doch meine Genauigkeit lässt noch zu wünschen übrig.

"Wenn du nicht enden willst wie dein Freund hier, gibst du das Kind zurück", warne ich ihn, deute auf den anderen Mann, der sich versucht die Klamotten vom Leib zu reißen. Noch ehe ich ihn in Bedrängnis nehmen muss, reicht er Lucia das Bündel, packt den Verletzten unter dem Arm und zieht ihn davon.

"Danke, danke, Liebes." Lucias überschwängliche Freude und der feuchte Kuss auf meine Wange sind mir zu viel. Ich habe gerade beinahe wieder einen Tod verantwortet. Nicht, dass ich den der Magierin bereue. Sie hatte es verdient. Sie war eine Gefahr für alle Einwohner Merals, hat unzählige Menschen auf dem Gewissen. Auch wenn ich bezweifle, dass sie überhaupt über ein Gewissen verfügte. "Komm!"

Die Bäckerin packt mich an der Hand, will mich ins Haus ziehen. Mein Protest wird im Keim erstickt, kaum kreuzen dutzende Männer mit Fackeln die Gasse und blockieren mir meinen Weg zu Luan.
"Schnell! Ihnen ist egal, ob Mensch oder Magier."

Sie hat Recht. Ich hingegen möchte nicht weitere Leben gefährden und folge ihr in das Haus, das mich mit Zimtduft umfängt. Lucia schließt die Tür, hakt einen Besen von innen in die Schlaufen der Klappen. "Die Jungs sind in Sira, üben bei der Küstenwache, und mein Mann ist am Wachturm. Du brauchst keine Angst haben, Liebes. Mein Baby und ich tun dir nichts."

Mir wird übel, als ich begreife, wer unter den glühenden Trümmern des Wachturmes begraben ist. Lucias Mann. Vater von drei Kindern, nein vier, nachdem ihr diese Geburt ebenfalls geglückt ist. Wie soll ich ihr das sagen? Ich beiße mir unsicher auf die Lippe. Soll ich es ihr überhaupt sagen?

Bevor ich ansetzen kann, packt sie mich am Arm, führt mich eine Treppe hinab in den Keller. Mehl liegt in der Luft, gesellt sich zu der Asche auf meiner Haut. Jeder Schritt weiter bringt uns tiefer in die Fänge der drückenden Finsternis, bis sie ein Licht anknipst. "Keiner wird uns hier finden, keine Sorge."

"Lucia...", fange ich an, blicke auf das kleine, in ein warmes Kleid gewickelte Mädchen und könnte heulen. Was ist das für eine verfluchte Welt? Sie haben sich so sehr ein Mädchen gewünscht, um diese Familie perfekt zu machen, nun ist alles zerstört.
"Kannst du sie ein wenig halten? Hin- und herwiegen? Ich hole noch schnell eine Decke für uns, ja?" Lucia reicht mir das Kind, streicht ihr kurz liebevoll über den Kopf. "Wer weiß, wie lange wir hier ausharren müssen, bis unsere Männer sie zurückgedrängt haben?"

"Lucia, warte." Ich greife nach ihrem Arm, halte sie zurück und fasse all meinen Mut zusammen. Ich kann sie nicht anlügen. Ich kann ihr nicht Hoffnungen machen, wo keine sind. "Der Wachturm ist...er hat gebrannt."

Sie nickt, will zur Treppe. "Er war auf dem Weg zur Glocke." Dann hält sie in ihrer Bewegung inne, als ihr der Irrtum auffällt. Die Glocke wurde niemals geläutet, weil der Wachmann es nicht so weit geschafft hat. "Man hört die Glocke nicht." Sie wirbelt zu mir herum, umklammert das Geländer, um nicht umzukippen. "Talia, warum hört man die Glocke nicht? Wie steht der Wind? Es ist der Wind, oder?"

Ich lege das Mädchen in eine Wiege an der Seite, damit ich Lucia halten kann, die sich verzweifelt an mir festkrallt. "Der Wind weht gen Westen, richtig?"
Ein vielsagendes Kopfschütteln, doch Lucia möchte nicht verstehen. Selbst wenn der Wind dorthin weht und das Läuten von Meral davontreibt, wäre die gesamte Hafenstadt aus dem Schlaf gerissen worden. "Der Wind kommt von Norden", bringe ich hervor.

Lucias Augen weiten sich, dann sackt sie in sich zusammen. Ihre hilflosen Schreie gehen mir durch Mark und Bein, als die Erkenntnis sie wie ein skrupelloser Schlag trifft. Tränen treten mir in die Augen. Wie sehr wünsche ich mir, ich könnte ihr diesen Schmerz nehmen! Doch es ist nicht ihr Körper, der blutet, sondern das Herz. Darauf habe ich keinerlei Zugriff.

Lucias Tränen sickern in meinen Umhang. Ich weiß nur zu gut, wie sie sich fühlt. Als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Wie sehr man sich nur einen einzigen Augenblick wünscht, um sich gebührend verabschieden zu können. Doch der Tod ist gnadenlos. Payla noch mehr.

"Ich hole die Decke", flüstere ich.
Sie nickt, doch meine Worte scheinen nicht zu ihr durchzudringen. Stattdessen fließt das Nicken in ein Hin- und Herwippen ihres Körpers über.
"Warte hier." Einmal sanft ihre Schulter drücken. "Ich bin sofort wieder da."

Die Stufen fliegen geradezu an mir vorbei. Abgedämpft dringt der Gleichschritt mehrerer Männer bis in das Haus. Ich bücke mich, als Licht am Fenster vorbeitanzt, rolle mich hinter einer Kommode zusammen. Erst nachdem der furchteinflößend akkurate Takt ihrer Schritte verklungen ist, hetze ich weiter. Lucia länger alleine zu lassen, als nur zwingend nötig ist, muss nicht sein. Doch da mir die Räume in diesem verwinkelten Haus bis auf den Verkaufsraum und die Backstube fremd sind, brauche ich meines Erachtens nach deutlich zu lange, bis ich wild verstreute Decken auf dem Sofa entdecke. Es wirkt so, als sei Lucia auf dem Sofa eingenickt, bis der Donner sie aus dem Schlaf gejagt hat. Eine Decke unter den einen Arm, eine weitere für das Mädchen, dann höre ich ihren gepressten Atem hinter mir.

"Du solltest unten warten." Ich klemme mir noch ein Kissen unter, damit sie es möglichst bequem haben wird, wenn schon die Grausamkeit der Welt die Räume auf ewig füllen wird.

"Ich brauche das Geld."
Das Geld, das auf mich angesetzt ist. Ihre Worte bringen das Blut in mir zum Gefrieren. Ich mache einen Satz zur Seite, entkomme ihrem Schlag jedoch nicht mehr. Glas zerschellt am Hinterkopf, bringt den Raum um mich zum Wanken. Der Boden rast in unsagbarer Geschwindigkeit auf mich zu, dann wird alles schwarz.

InhumanityWhere stories live. Discover now