19 • Ash

242 43 29
                                    

Ein energisches Klopfen an der Tür weckt mich. Schlaftrunken drehe ich mich, mein Arm rutscht träge vom Sofa. Ein erster Sonnenstrahl fällt durch die Fensterklappen direkt auf mein Gesicht, blendet mich. Was treibe ich eigentlich hier auf der Couch?

Seufzend erhebe ich mich, werde regelrecht von Runas Duft nach Vanille erschlagen. Verwirrt richte ich die leere Glasflasche neben dem Sofa in die Vertikale, verfluche mich innerlich für meine Inkonsistenz. Kein Alkohol mehr - das hat ja hervorragend funktioniert. Mein Blick gleitet in mein Schlafzimmer. Die Magierin liegt mit dem Gesicht zur Seite gedreht auf meiner Decke, ein Arm baumelt in der Luft, das schwarze Haar ist verknotet.

Wir wollten nur zelebrieren, dass ich Simon gefunden habe. Zelebrieren und reden, mehr nicht. Je später der Abend wurde, umso munterer waren jedoch die Gemüter. Alkohol und ich sind keine Freunde, das weiß Runa. Ich mache ihr keinen Vorwurf - ich hätte verdammt nochmal die Finger davon lassen sollen. Immerhin scheine ich so viel Verstand bewahrt zu haben, ihren Annäherungsversuchen widerstehen zu können. Diesen Fehler habe ich einmal begangen, einmal und nie wieder.

Das Klopfen wird ungeduldiger.
"Ich komme!"
Das Shirt notdürftig glattgestrichen, schon stehe ich im Flur. Das schwere Holz der Türe bremst fast alle Gerüche, dennoch entnehme ich eine maskuline Note, ein vor Aufregung schnell pochendes Herz. Ich öffne die Tür und erstarre. Will. Er sieht genauso aus wie vor zwei Jahren, lediglich die Wunde auf seiner Stirn ist einer Narbe gewichen. Ansonsten scheint es fast so, als wäre keine Zeit passiert, als hätten wir uns gestern zuletzt gesehen.

Mein Blick sucht den Weg ab, streift über das ruhige Wasser, in dem sich die aufgehende Sonne spiegelt. Nur Will. Von Talia fehlt jede Spur, jeder Geruch, jedes Geräusch. Ich kann nicht vermeiden, dass sich zu der Enttäuschung Erleichterung mischt. Die leeren Weinflaschen, die schlafende Runa in meinem Bett - dabei ist nichts weiter geschehen - sind nicht für ihre unschuldigen Augen bestimmt, nichts, worauf ich stolz bin.

Mein Blick wandert zurück zu Will. Natürlich hat er meine Bleibe problemlos gefunden - er weiß, was ich brauche, um Ruhe zu finden. Ein abgelegenes Haus, die sanften Wellen des Sees. Für einen Moment starren wir einander an, keiner weiß, was er sagen oder tun soll. Will hebt den Arm und ich wappne mich bereits für die Umarmung, da werde ich grob zurückgestoßen.

"Woah", bringe ich hervor, fange mich ab und hebe die Hände. Woher kommt das denn? Wenn jemand das Recht dazu hat, wütend zu sein, dann ich. Er hat mir nicht geglaubt, hat mir seinen Rücken zugewandt, war zwei Jahre verschwunden. Ich habe mir strengstens vorgenommen, ihm dies zu verzeihen. Will macht sich jedoch gerade sein eigenes Leben schwer.

"Schämst du dich eigentlich kein Bisschen?" Er tritt ein, seine Stimme sprüht vor Wut. Aus dem Schlafzimmer vernehme ich das Rascheln der Decke. "Wo ist sie? Oder hast du ihre Leiche bereits neben der ihres Bruders verscharrt?"

Talia. Fragend runzele ich die Stirn, ein mulmiges Gefühl braut sich in mir zusammen, derweil sich seine Worte zu einer grausamen Vorahnung summieren.
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst", erkläre ich ruhig, versuche verzweifelt mein laut klopfendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Es wird eine vernünftige Erklärung für seine Anschuldigungen geben, es muss sie geben.

"Muss ich deine Erinnerungen wirklich auffrischen?"
Er stößt die Tür hinter sich zu, baut sich vor mir auf. Komm schon, Will, wir wissen beide, dass du keine Chance hast. Provoziere es lieber nicht.
"Sie hat dir unseren Plan vorgestellt und du hast es nicht ertragen können, Simon gehen zu lassen, sollte Kaya leben. Warum aber Talia?" Er will mich nochmals stoßen, doch ich fange seine Hand mühelos ab. "So viel Güte hätte ich dir noch zugetraut, sie gehen zu lassen!"

"Ganz schön viele Anschuldigungen für so wenig Ahnung." Ich lasse die Hand los, versuche seinen Worten Sinn zu verleihen. "Wenn du denkst, dass ich einer Unschuldigen das Leben nehmen würde, dann kennst du mich nicht mehr. Ich habe ihr nichts getan. Weder ihr, noch ihrem Bruder."
Wie sollte ich auch? Jedes noch so kleine Wort aus ihrem Mund, jeder nicht nur voller Verachtung funkelnder Blick, jeder rosige Duft, jede Andeutungen eines Lächelns auf ihren Lippen - sie treibt mich in den Wahnsinn, macht mich geradezu besessen.

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt