34 • Talia

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Skeptisch drehe ich den Teller zwischen uns. "Was ist denn das?"
"Gefüllte Teigtaschen. Eine regionale Spezialität."
"Und das weißt du woher?"
Ash zuckt belanglos mit den Schultern. "Wenn schon sonst nichts im Osten eine gute Heimat war, dann wenigstens das köstliche Essen." Ich will gerade nach dem Besteck greifen, als er mir zuvorkommt. "Die isst man übrigens traditionell mit den Fingern."

Mein Blick wandert zu den Tischen um uns herum. Neben einem grimmig dreinblickenden Mann entdecke ich einen Jungen, der die Teigtaschen mit seinen Fingern in die Soße taucht, dann gierig verschlingt. Wer weiß - wenn ich einen ersten Bissen genommen habe, werde ich mich möglicherweise ebenso darauf stürzen. "Gut zu wissen. Nimmst du nicht auch etwas?"

Mein Gegenüber schüttelt den Kopf, doch ich lasse nicht locker.
"Wir haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ich muss jetzt wohl nicht deine Mutter spielen und dich darüber aufklären, dass du mir sonst noch vom Fleisch fällst, oder?"
Ash grinst. "Das hast du gerade getan."

Er greift nach einer Teigtasche, tunkt sie in die Soße und kaut genüsslich darauf herum, derweil sein Blick zur Theke schnellt. Wir haben uns einen freien Tisch in der Ecke gesucht, außerhalb der Lichtpegel, am Rand des Lärms, genau perfekt. Zumindest für das, was das Gasthaus bietet, um ihm die Wartezeit erträglicher zu machen und zugleich einen Blick auf die Theke werfen zu können. Die Zeugin ist bislang jedoch noch nicht erschienen - sie verspäte sich ab und an, meinte die Wirtin, als sie uns das Essen persönlich brachte.

Ash greift nach einer weiteren Teigtasche und dreht sie gedankenverloren in der Soße hin und her. Er wirkt unschlüssig, nervös.
"Du kommst also ursprünglich aus dem Osten?", frage ich vorsichtig, lasse ihm die Wahl, darauf einzugehen und seine Gedanken abzulenken, oder eben nicht.
"Aus einem Dorf tiefer in den Bergen. Meine Mutter hat es geliebt, die Teigtaschen zu kochen."
"Du sagst das so, als wäre es schon Ewigkeiten her", bemerke ich und beiße in eine Teigtasche. Gewürze verteilen sich auf meiner Zunge, begleitet von einem Geschmack der mir völlig fremd ist.

"Zwölf Jahre."
"Oh." Ich schlucke, bemerke, dass ich mitten ins Fettnäpfchen getreten bin. Er ist bereits aufgewühlt, seit wir Fuß in dieses Gasthaus gesetzt haben - die Anmerkung über seine Mutter hätte ich mir wohl besser sparen können. "Das eben war taktlos von mir, tut mir leid."

"Woher solltest du es denn wissen? Zumal sie keine guten Eltern waren. Mein Vater war stets geschäftlich unterwegs, kaum zu Hause, und meine Mutter hatte eine Vorliebe für lange Abende in Kneipen." Er zuckt gleichgültig mit den Schultern. "Sie hatte ein paar wenige, gute Tage, viel mehr schlechte. Nachdem sie wieder einmal die Flasche nach uns geworfen hat, sind wir abgehauen. War vermutlich besser so. Früher oder später hätte sie unsere Magie nicht mehr auf den Alkohol geschoben und uns gemeldet."

Baff starre ich ihn an, überwältigt von dem, was er mir gerade offenbart hat. Solche Ereignisse können einen ewig verfolgen - ich selbst bin noch immer gezeichnet von meiner eigenen Mutter. Wie schlimm muss es aber für ihn gewesen sein, da er mehr fühlt? Oder hat ihm seine Schwester den Schmerz nehmen können? "Ash..."
"Halb so schlimm. Zeit heilt jede Wunde, nicht wahr?"

"Manche brauchen ein wenig länger als andere", murmele ich.
"Du sprichst aus Erfahrung."
Es ist keine Frage, vielmehr eine Feststellung. Er hätte schon blind durchs Leben gehen müssen, um zu übersehen, dass Luan alles ist, was ich noch habe. Ich atme einmal ein, zögere. Sein Leben ist genauso verkorkst wie das meine - vermutlich ist das der Grund, warum ich mich nicht verschließe.

Also erzähle ich ihm von meiner Mutter. Von der Frau, die meinem Vater das Herz gebrochen hat, als sie ihre Siebensachen packte und nie wiederkam. Von der Frau, die das Unwissen ihrer Kinder ausnutzte, als sie tagein, tagaus den Mann in unser Zuhause ließ, derweil mein Vater nichtsahnend auf dem Meer war. Von der Frau, der nicht genug war, was sie mit uns hatte. Ich hasse sie und dennoch wünscht sich ein winziger Teil in mir, dass sie zurückkommt - der Teil, der sie noch immer meine Mutter nennt.

InhumanityWhere stories live. Discover now