8 • Ash

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Meral ist eine kleine, malerische Hafenstadt, welche geduckt in einer Bucht am nördlichen Gipfel Sonelems liegt. Die farbenfrohen Fassaden der Häuser verleihen Meral eine bezaubernde Atmosphäre, die durch die Musiker am Hafen und die gastfreundlichen Bewohner begleitet werden. Weniger bezaubernd ist, wenn jeder Bewohner Merals ein Magier sein könnte und die so kleine Stadt auf einmal gigantisch wirkt.

Knapp dreitausend Einwohner. Das kann nun wirklich nicht zu schwer sein, rede ich mir selbst ein. Dabei ist Meral deutlich zu groß, um ein wenig Johanniskraut im Grundwasser zu verstreuen und darauf zu warten, wer über höllische Schmerzen klagt. Diese dafür erforderliche Menge an Johanniskraut besitze ich nicht und kann ich auf die Schnelle auch nicht auftreiben. Die Berater des Königs haben sämtliche Bestände abgesondert und streng geschützt, um sich der Magier Treue zu sichern.

Das bedeutet, dass ich einen anderen Weg finden muss, um die Magie ausfindig zu machen. Lucius hat noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ganz versessen ist, diese eine Magie in den Dienst abordnen zu können.
"Die Heilerin kann Leben retten", hatte er mir duzende Male eingetrichtert. "Wie profitabel das für unsere Garde und euch Magier ist, muss ich wohl nicht weiter ausführen."

In der Tat nicht. Profitabel für Sonelem sicherlich, jedoch geradezu zerstörerisch für den Magier. Das Interesse an der Heilung ist so groß, dass die Berater die Grenzen der Leistungsfähigkeit testen würden. Werden sie gesprengt, versagt der menschliche Körper. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit ihrer Gier nach mehr den Tod eines Magiers herbeiführen. Dass es mich zurück nach Meral führen wird, zweifle ich nicht an. Das junge Mädchen war dort. Um jedoch nicht die Nadel im Heuhaufen suchen zu müssen, erlaube ich mir ein wenig Hilfe. Also greife ich nach dem Türklopfer und kündige mich an.

"Ich dachte schon, ich muss dich in der Hölle suchen."
Runa lächelt und tritt zur Seite, um mir den Weg frei zu machen. Für Fremde mag ihr zu Hause auf den ersten Moment komplett widersprüchlich zu ihrer Erscheinung wirken. Die schwarzhaarige Magierin mit ebenso farbigen, viel zu langen Nägeln ist gnadenlos und zynisch mit einem Humor, der aneckt. Ihre Wohnung hingegen ist in hellen Farbtönen gehalten, stets ungeordnet und birgt eine wohlige Atmosphäre. Das polierte Klavier und der mit duftenden Blumen verzierte Spiegel im Wohnzimmer tragen dem bei. Dass die Wände nicht in ihrer liebsten Farbe gehalten sind, hat nur einen Grund: "Schwarz schreckt Menschen ab. Und du weißt ja, Ash, ich brauche meine Gesellschaft."

Runa genießt es, freie Abende in einer Schenke zu verbringen und die Aufmerksamkeit menschlicher Männer zu erobern. Sie meint, tiefgründige Gespräche mitten in der Nacht stellen den perfekten Ausgleich zum Dienst dar. Nur ein einziges Mal habe ich sie darauf angesprochen, dass es die Einsamkeit ist, die ihr zusetzt. Ihre harsche Verleugnung hatte mir gezeigt, dass ich damit ins Schwarze getroffen hatte.

"Die ist leider gerade schon voll, also muss ich noch ein wenig hier verweilen."
Runa lacht auf und deutet auf einen runden Tisch. Dem makellosen Holz und dem frischen Duft nach, muss er neu sein. "Welch eine Ehre, dass es dich dann zu mir verschlägt."

"Das hast du Lucius zu verdanken."
"Mhm." Sie verzieht das Gesicht kurz zu einer Grimasse und zeigt mir deutlich, dass sie gerne etwas anderes gehört hätte. "Du musst jemanden finden."

Wortlos ziehe ich die Karte von Meral hervor, rolle sie auf dem Tisch aus und platziere auf jede Ecke eine Kerze.
Runa wirft sich das lange Haar auf den Rücken und beugt sich darüber. "Meral? Wo soll denn das sein?"
"Eine Hafenstadt im Norden."
"Mhm", brummt sie erneut und inspiziert die Gassen. "Dorf trifft es besser. Warum machst du dich nicht einfach auf die Suche?"

"Lucius hat noch jemanden ausgesandt."
Sie nickt. "Und du musst Erster sein. Wegen Simon, ich verstehe. Wohl noch immer keine Spur?"

Runa und ich kennen uns seit ich freiwillig dem Dienst beigetreten bin. Bereits am ersten Tag liefen wir einander über den Weg. Nachdem sie gerufen wurde, um einen Magier eines anderen Reiches zu lokalisieren, wusste ich sofort, dass ihre Magie wertvoll ist. Da meine Geschwindigkeit und Stärke jedoch im Kampf besonders vorteilhaft sind, erkannte sie auch meinen Wert an. In einem Moment des Sturztrunkes offenbarte ich ihr meine Beweggründe. Danach war ich nie wieder betrunken.

"Nein, aber ich gebe nicht auf."
"Das weiß er auch", meint sie. Zwei Jahre bereits gibt es kein Anzeichen von Simon oder den Anderen. Sie decken einander. "Nun gut, was bekomme ich dafür von dir?"

Sie legt scheinbar unschuldig den Kopf schief und spielt mit einer Haarsträhne. Unbeirrt ziehe ich das Buch hervor. Eine historische Sammlung von Zaubersprüchen, so alt, dass die Seiten vergilbt sind und nach Staub riechen. Runa verdreht die Augen. "Ein Buch? Wirklich, Ash?"
"Nicht irgendein Buch."
Ihre Augen weiten sich wissend, beginnen zu strahlen. Ihr verruchter Gedanke ist längst verflogen. "Du hast es gefunden?"

Tatsächlich habe ich es schon seit Monaten. Dass ich es jedoch bei mir aufbewahrt habe, bis ich einen Gefallen brauche, muss sie nicht wissen. Sie greift danach, wendet es behutsam mit ihren langen Nägeln und blättert ein paar Seiten durch. Staunend fährt sie die schnörkelige Schrift nach und betrachtet eine detaillierte Zeichnung. Dann klappt sie das Buch schwunghaft zu und legt es beiseite. "Danke."
Ich nicke knapp und deute auf die Karte. Was sie an dem Buch so fasziniert, kann ich nicht begreifen. Zaubersprüche sind wirkungslos. Nur Magie erschafft Übermenschliches.

Ohne zu zögern umschließt sie ein Messer mit ihrer Faust und zieht es langsam heraus. Zu dem süßen Duft nach Vanille ihres Parfums mischt sich eine Note metallischen Geruchs, so gering, dass sie selbst es nicht riechen kann. Das Blut fließt über die glänzende Klinge und tropft direkt auf den eingezeichneten Hafen.

Für gewöhnlich braucht es nur einen kleinen Moment, um sich aufzuteilen und die verschiedenen Orte zu markieren, an denen in letzter Zeit Magie eingesetzt wurde. Gebannt warte ich. Das Blut fließt kerzengerade durch Häuser, Gassen und Namen, einmal durch komplett Meral hindurch. Auf einem Feld, weit entfernt von jeglicher Zivilisation, weicht der Tropfen die Karte ein.

Runa runzelt die Stirn. "Vielleicht im Dorf daneben?"
"Das kann nicht sein."
Sie wendet der Karte erneut ihre Handfläche zu und lässt mitten auf den Gassen einen Tropfen landen. "Dann noch einmal. Obwohl der Hafen nicht das Problem sein dürfte."

Wortlos beobachte ich den tiefroten Tropfen, bis er sich in Bewegung setzt. Ungebremst passiert er den Marktplatz und gesellt sich zu dem anderen.
"Die Magie wirkt nicht", raune ich Runa zu, versuche eine Erklärung dafür zu finden.
"Natürlich wirkt sie!" Die Schwarzhaarige dreht sich empört zu mir um und stemmt die Arme in die Hüfte. "In Meral hat nur keiner Magie verwendet."

"Doch. Wenn nicht noch andere, dann zumindest ich." Ich tippe auf den Marktplatz um den Brunnen herum, dort, wo ich das Mädchen gefunden habe. Dort, wo das Blut hätte abbremsen müssen. "Hier."

"Vielleicht ist es zu lange her?"
"Nein. Gestern." Ich starre auf die Karte, dann auf die zwei mittlerweile ins Pergament eingetrocknete Tropfen Blut. Es kann nicht an der Karte liegen. Die Ortung von Magie ist nicht davon abhängig. Was ist aber, wenn es an Meral selbst liegt? "Ist es möglich eine komplette Stadt vor deiner Magie zu schützen?"

Runa versteht sofort, was mir durch den Kopf geht, doch zuckt nur mit den Schultern. "Möglich sicherlich. Das muss aber furchtbar anstrengend sein, eine ganze Stadt abzuschirmen. Warum sollte jemand das tun?"
"Da möchte wohl jemand nicht gefunden werden", murmele ich. Mein Herz schlägt einen Takt schneller. Habe ich etwa mein Ziel erreicht? Ist das der Ort, an dem sich Simon aufhält?

"Du meinst, Simon könnte dahinter stecken?"
In Windeseile rolle ich die Karte ein. "Wie sagt man so schön - zwei Fliegen mit einer Klappe."
Runa grinst. "Das wurde aber auch Zeit. Lucius wird sich freuen."

Und ich erst.

InhumanityWhere stories live. Discover now