7 • Talia

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Ich habe vollkommen unterschätzt wie schwer es sein kann, die Kontrolle zu bewahren.

Da ist nicht nur der Wille, den man bezwingen muss, sondern auch diese scheinbar unzähmbare Energie in jeder Faser des Körpers. Wie mir bewusst wird, kann ich weder das eine, noch das andere annähernd beherrschen. Das hat mich in dieses Schlamassel gebracht.

"Das sieht nicht so schlimm aus wie ich dachte", meint Jace noch immer ein wenig weggetreten. Leben kehrt in sein Gesicht zurück, die blasse Haut erlangt allmählich ihre Farbe wieder. Er war viel zu benommen, um wahrgenommen zu haben, was ich angerichtet habe.

Kann ich es als Zufall oder Absicht betiteln, dass mich der Fremde genau in dem Moment weggestoßen hat, bevor Jace sein volles Bewusstsein wiedererlangt hat? Warum aber sollte er das tun? Will er mich melden, bevor Jace es vollziehen kann? Oder hat es etwas mit seinem mysteriösen Erscheinen zu tun? Wenn er die Magie will, dann soll er sie haben. Ich beneide ihn sicherlich nicht darum.

"Du hattest Glück", pflichte ich Jace bei, als er nach einem bereits verstaubten Stück Stoff greift und es sich plump um den Finger wickelt.

"Immerhin einmal", bringt Jace lächelnd hervor und widmet sich gleich wieder der Arbeit. Als er das Glas an der Fissur bricht, hüllt uns erneut Schweigen ein. Die Panik in mir jedoch bringt meinen Puls zum Rasen. Ich muss den Fremden davon abhalten, mich zu melden. Da wäre nur die Frage, wie ich das anstellen soll.

Ihn bei lebendigem Leibe anzuzünden, halte ich für eine weniger kluge Idee. Zurück zu Marvin zu sprinten ebenso - er muss nur Jace nach meinem Namen fragen. Gibt es denn überhaupt einen Ausweg? Ich kann ihm wohl schlecht ausreden, was er gesehen hat.

"Bitte", reißt Jace mich aus meinen Gedanken. Er deutet auf die in Papier eingeschlagenen Scheiben Glas. "Und verzeiht mir die kleine Verzögerung."

"Kein Problem." Der Fremde beruhigt Jace mit einem bestechlichen Lächeln. "Ich habe genug Zeit."
Dann streift mich sein Blick. "Kann ich dir beim Tragen helfen?"
Bloß nicht.

Ich winke ab. "Selbst ist die Frau."
"Na gut", meint er. "Dann auf Wiedersehen."
Jace erwidert den Gruß, derweil ich baff an Ort und Stelle stehe und zuschaue, wie der Fremde sich umdreht und geht. Er fragt weder nach meinem Namen, noch schleppt er mich hinter sich her bis zum Rathaus, um dort anklagend auf mich zu zeigen. Er geht. Einfach so.

"Alles in Ordnung?" Jace macht eine knappe Kopfbewegung zu dem Fleck, an dem der Fremde soeben noch stand.
Ich nicke, zwinge ein Lächeln auf meine Lippen. "Ich bin nur ein wenig überrascht, dass ich ihn noch nie gesehen habe."

"Ach deswegen", meint Jace und zuckt die Schultern. "Vielleicht ist er kürzlich hergezogen. Mir ist er auch nicht bekannt."

"Das wird es sein", stimme ich ihm zu, obwohl mein Bauchgefühl anderer Meinung ist. Irgendetwas an ihm ist befremdlich. "Ich sollte dann wohl auch gehen. Richte deiner Mutter liebe Grüße aus."
"Natürlich. Das gilt auch für Luan."

Das Wetter hat erneut umgeschlagen als ich aus der Werkstatt trete. Die morgendliche Sonne ist dunklen Wolken gewichen und verkündet ein nahendes Gewitter. Als erste Tropfen auf meiner Nase landen, ziehe ich mir die Kapuze meines Mantels über den Kopf. Ich will gerade einen zügigen Schritt einlegen, da erstarre ich inmitten meiner Bewegung. Der Fremde hat sich nur ein Haus weiter gegen die Wand gelehnt und betrachtet skeptisch den dicht behangenen Himmel. Von seinem Glas ist weit und breit keine Spur.

"Mein Angebot steht noch immer", höre ich ihn sagen. Obwohl er mich nicht anschaut, kann dies nur mir gelten. Die Gasse zum Meer ist menschenleer.

"Meine Antwort ebenso", erwidere ich und laufe geradewegs an ihm vorbei, darauf bedacht außerhalb seiner Reichweite zu bleiben. Er stößt sich von der Wand ab und steht im nächsten Moment vor mir. Direkt vor mir. Ich gefriere an Ort und Stelle, spüre seinen Atem auf meiner Haut, so nah ist er mir plötzlich.

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt