Kapitel #021

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Kritisch betrachtete ich mich im Spiegel meines Zimmers. Ich hatte die Klamotten an, die mir für den Botengang ausgehändigt worden waren. Neuste Rebellen-Technologie, wie mir die Dame, die mir beim anziehen geholfen hatte, erklärt hat. Es handelte sich hierbei um ein komplett pechschwarzes Outfit. Leichte, wasserdichte Schuhe mit gutem Profil für Sprints, eine hautenge, schwarze Hose, die zwar anlang, in der man aber noch viel Bewegungsfreiheit hatte. Darüber ein enges Sweatshirt und - das einzige Kleidungsstück, dass nicht hauteng Anlang - ein dunkelgrauer Hoodie mit Kaputze. Der dient, laut dieser Frau, vorallem zur Tarnug, wenn wir normalen Zivilisten über den Weg laufen. Auserdem hält er warm und der Stoff ist so beschaffen, dass er bei Bewegung keine Geräusche macht. Irgendein System, dass man sich von Eulen abgeguckt hat oder so. Meine widerspenstigen, dunkelbraun Haare wurden zu einem Zopf geflochten, obwohl diese später unter der Kaputze des Hoodies sowieso nicht mehr zu sehen sein würden. Zum Schluss wurden noch meine Wangen, mein Hals und meine Handrücken mit irgendeiner schwarzen, nach nichts riechenden Paste ein. Damit mich im Schatten nicht meine Handrücken verraten, wurde mir erklärt. Außerdem zeigte man mir, wie ich die Kaputze so aufsetzte, dass man nichts mehr von meinem Gesicht sieht. Und so stand ich jetzt vor dem Spiegel. Gleich würde Alex mich abholen und zum Ausgang brigen, dann würde ich mit Bastian losgehen. Ich musste offen gestehen, dass ich nach dem riesigen Aufwand, der hier betrieben wurde, schon ein bisschen Angst hatte. Diese Botschaft scheint ja sehr wichtig zu sein. Noch bevor ich mir weiter darüber den Kopf zerbreche konnten, öffnete sich die Tür und Alex steckte seien Kopf hinein. "Bist du soweit?" wollte er wissen. Ich brachte jedoch nur ein Nicken zustande und folgte ihm aus meinem Zimmer.

Wir kamen an eine schlichte, weiße Tür, die - anders als alle anderen - weder beschriftet noch nummeriert war. Alex holte eine Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss sie auf. Dahinter lag ein Treppenhaus, das nach oben führte. In regelmäßigen Abständen erleuchteten Neonröhren, die an den fensterlosen Wänden angebracht worden waren, die Stufen. "Ich dachte, es geht nicht höher als bis zum Raum der Gefallenen...?" fragte ich vorsichtig, nachdem die Tür hinter uns zugefallen war und wir uns eilig an den Aufstieg machen. Alex zuckte mit den Schultern "Alle Eingänge zur Bärenhohle sind etwas... verworren. Für diesen hier müssen wir in den obersten Stock eines leerstehenden Hochhauses. Damals war das hier die Brandschutz-Treppe. Wir haben sie leicht modifiziert. Man muss also erst nach ganz oben, dann von dort wieder runter. Oben wartet auch Bastian". "Aha" murmelte ich nur belanglos, weil mir nichts besseres einfiel. Und, weil mir nicht nach Reden war. Also bestiegen wir den Rest der Treppe schweigend und nach einer kleinen Ewigkeit kamen wir oben an. Tatsächlich durchquerten wir eine Brandschutztür, dann einen kurzen Korridor. Der Anblick, der sich mir im folgenden Raum bot, ließ mir den Atem stocken. Das ganze Obergeschoss schien aus einem Raum zu bestehen, dessen Wände nur aus Glas waren. Da wir ungefähr im zwölften Stockwerk waren, hatte man einen unglaublichen 360-Grad-Blick über die ganze Stadt. Dazu kam dann noch der fantastische, glühende Sonnenuntergang im Westen, der die ganze, sonst so weiße Stadt in ein feuerrotes Licht tauchte. Wie Blut schimmerten die Mauern, die die Codebezirke voneinander trennten. Der äußerste Stadtring, wo die Ghettos waren und dann wohnten Ring für Ring immer reichere Leute, bis zum innersten Kreis, wo sich groß und bedrohlich der Präsidentenpalast erhob. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. "Da seit ihr ja endlich" sagte Bastian plötzlich hinter mir und ich zuckte zusammen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich bis an die Scheibe getreten war und meine Hand sehnsüchtig an das kalte Glas gelegt hatte. 'Wie lange habe ich keine Sonne mehr gesehen?' schoss es mir durch den Kopf, bevor ich mich seufzend zu meinem Begleiter umdrehte. "Können wir dann los? Wir müssen genau dahin, wo die Sonne umgeht, also einmal quer durch die Stadt und das in einer Nacht. Wir müssen uns ranhalten".

"Geh schonmal vor, ich hab noch was mit Bastian zu klären" sagte Alex kalt und schien meinen Begleiter mit seinen Blicken töten zu wollen. "Okay, dann... tschüss" sagte ich leise und trat zögerlich einen Schritt auf ihn zu. Sofort wurde Alex' Blick weich "Tschüss Kleine, pass auf dich auf". Er schloss mich in seine starken Arme und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel, bevor er mich lamgsam aber bestimmt auf das Treppenhaus zuschob, das uns runter in die Stadt führen wird. Noch einmal schaute ich ihm in die Augen, bevor ich durch die Tür trat. Aber natürlich dachte ich gar nicht daran, vorzugehen. Stattdessen legte ich mein Ohr an die Tür. Ich weiß, Lauschen ist unhöflich, aber da es wahrscheinlich um mich und/oder um die Mission geht, geht es mich doch durchaus was an, oder? Ich nenne es also nicht 'lauschen', das klingt so hinterhältig, ich nenne es lieber 'unauffälliges beschaffen von Informationen'. Gerade, als ich mir selber mein schlechtes Gewissen ausgeredet hatte, vernahm ich auch schon dumpf Bastians Stimme "Was willst du?". Dann war kurze Zeit nichts zu hören, ehe Alex wütend antwortete "Du passt auf sie auf, ja? Sie ist mit Abstand die wichtigste Person des ganzen Widerstandes! Ich will sie in ganzen Stücken wiederhaben. Und WEHE du fasst sie an! Dann bist du TOT, das schwöre ich dir!". 'Aw, wie süß ist das denn' schoss es mir durch den Kopf. Bastian lachte jedoch nur auf "Oh, machst du dir sorgen um deine süße, kleine Lucy? Wie herzzerreißend. Nur Schade, dass ich statt dir sie begleiten darf...". "Lass deine weinerlichen Finger von ihr" knurrte mein Trainer bedrohlich. Bastian antwortete darauf ganz ruhig "Hier in der Bärenhohle wird sie ja wie ein Löwenbaby von einer ganzen Löwenfamilie beschützt. Also sagen wir so... ich lass mir keine Gelegenheiten entgehen. Finde dich mit dem Gedanken ab!". Mit diesen Worten war die Unterhaltung wohl beendet, denn schwere Schritte näherten sich der Tür, an der ich noch lehnte. Panisch stolperte ich zurück und sprintete los. Als ich den zweiten Treppenabsatz erreichte, hörte ich, wie sich die Tür, an der ich eben noch gelauscht hätte, öffnete. Gerade noch mal Glück gehabt... und das Risiko war es definitiv wert.

Nach einer unendlichen Treppe nach unten trat ich endlich ins Freie. Tief atmete ich ein, auch wenn die Luft nicht die frischeste war. Wie lange war ich nicht mehr draußen gewesen? Gefühlte Jahrhunderte. Das letzte mal in jener Nacht, in der mich die Leute von der Regierung angegriffen hatte und ein Ausgestoßener mich gerettet und zu den Rebellen gebracht hat. Ich habe ihn bis heute nicht kennen gelernt... wenn ich von dieser Mission zurück bin, muss ich mich mal bei ihm bedanken. Auf jeden Fall weckte mich jetzt die frische Abendluft auf und ich genoss es, mal wieder draußen zu sein. "Du hast gelauscht, stimmt's?" riss mich auf einmal Bastians Stimme direkt hinter mir aus den Gedanken. Ich wirbelte herum, doch er stand näher als erwartet. Zu nah. Also ging ich einen Schritt nach hinten, während ich vorsichtig fragte "Woher willst du das wissen?". Er grinste und kam wieder einen Schritt auf mich zu "Deine Mimik spricht Bände". "Bleib mir bloß vom Hals" sagte ich angewiedert "Ich habe einen Freund!". Ich wich immer weiter zurück doch er folgte mir, bis ich mit dem Rücken gegen die kalte Hauswand des leeren Hochhauses stieß. Doch Bastian ließ mir keinen Platz. Wie eine Mauer stand er vor mir, drückte mich an die Wand, als er sich zu mir herunterbeugte und mir ins Ohr flüsterte "Der macht doch schon seit Wochen mit dieser Blonden rum...". "WAS?!" schrie ich und wurde so sauer, dass ich es tatsächlich schaffte, ihn von mir zu stoßen "Du lügst! Sag, dass das nicht wahr ist!". Er zuckte nur mit den Schultern, wandte sich von mir ab und sagte "Tut mir leid. Und jetzt komm, wir müssen los". Fassungslos starrte ich ihn an an, ehe ich mich in Bewegung setzte und ihm folgte. Als ich meinen Begleiter wieder eingeholt hatte, zischte ich "Du bist ein Arschloch, ich glaub dir kein Wort!". Abschätzig schaute er zu mir runter "Glaub, was du glauben willst. Aber sag nahher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Und bitte zick jetzt nicht die ganze Zeit rum. Ich kann nichts dafür, wenn dein Freund fremd geht, aber ich muss die nächsten vierundzwanzig Stunden mit dir aushalten". Ich schnaubte verächtlich "Leck mich, Bastian!" und stolzierte an ihm vorbei. Er lügt. Auf jeden Fall. Hundert prozentig, ach was, tausend prozentig! Nur eine ganz leise Stimme in meinem Kopf flüsterte 'Was, wenn nicht?'.

Während wir durch die leeren, kalten Straßen des Ghettos liefen, ließ mich der Gedanke, Dennis könne mich betrügen, nicht mehr los.  Was ist dann? Mache ich Schluss? Aber wie soll ich es ohne Dennis überhaupt aushalten? Wir sind schon seit Ewigkeiten zusammen und ich liebe ihn, wirklich. Er hatte mir immer Halt gegeben. Wie komme ich ohne ihn klar? Wobei ich ihn in letzter Zeit auch so gut wie nie gesehen habe... Entweder war ich Trainieren oder er war beschäftigt. Und abends war ich viel zu müde, um noch zu ihm zu schleichen. 'Fremd gehen wäre auf jeden Fall nicht schwer, so oft wie wir uns die letzten Wochen gesehen haben' dachte ich leicht bitter. Aber wie komm ich überhaupt dazu, Bastian zu Glauben? Ich mein, ich kenn ihn seit drei Stunden, warum vertrau ich ihm mehr als meinem Freund? Wiederrum, warum sollte er lügen? Ich mein, was hat Bastian davon? Sauer fuhr ich mir durch die Haare. Argh, das führt doch alles zu nichts. Ich muss Dennis einfach Fragen, wenn wir wieder in der Bärenhohle sind. In diesem Moment seufzte Bastian auf "Ich brauche heute Nacht deine volle Konzentration. Also, was bedrückt dich?". Überrascht schaute ich zu ihm auf "Warum machst du das?". "Damit es dir besser geht. Und jetzt rede" knurrte er fast. Ich zuckte leicht zusammen und schaute auf den Boden vor uns "Naja, wegen deiner Aussage vorhin... weißt du, ich liebe ihn echt". "Das tut mir leid, ich war vielleicht etwas grob" sagte er und klag tatsächlich so, als würde er es ernst meinen. "Das muss es nicht" flüsterte ich und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln, ehe ich fortfuhr "Aber eine Frage hätte ich noch... woher weißt du davon? Und woher kennst du Dennis?". Jetzt schaute er mich überrascht und etwas verwirrt an "Welcher Dennis?". Ich erwiederte seinen Blick "Hallo?! Dennis Morgan natürlich. Mein Freund!". Er bieb stehen "Oh Entschuldigung, dann ist das ein Missverständnis. Dein Freund geht nicht fremd". Einen Moment war ich erleichtert. Aber nur einen Moment, ehe Bastian lachend hinzufügte "Ich dachte doch echt, Alex wäre dein Freund".

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