Epilog

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~Ungefähr ein Jahr später ~

Ich stapfte durch die verlassenen Straßen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und ein eisiger Wind blies. Meine Hände waren in meinen Jackentaschen vergraben und meine Schuhe hinterließen Fußspuren in der dünnen Schneedecke, die sich bereits auf den Straßen gebildet hatte. Noch immer fielen abertausende Schneeflocken vom Himmel, segelten unentschlossen hin und her, wurden vom Wind weggetrieben. Einzelne verfingen sich in meinen Wimpern oder in meinen dunklen Haaren. Ich kam an eine Ringmauer. Hier hätte ich damals meinen Code auf den Touchscreen drücken müssen, um in den neuen Bezirk zu kommen. Heute stehen alle diese Türen offen und langsam aber sicher werden die Mauern in der ganzen Stadt abgebaut. Doch ich schenke dem grauen, hässlichen Teil keine Beachtung. Ich habe ein anderes Ziel - wie jeden Morgen. Langsam verlasse ich die inneren Ringe der Stadt und komm immer mehr in die Außenbezirke. Nach einigen Minuten stehe ich vor meinem ersten Ziel: einem alten, heruntergekommenen Kiosk. Ich gehe hinein und eine Kuhglocke über der Tür kündigt mich an. Der Verkäufer - Thomas heißt er - lächelt mich an. Auf dem Tresen vor ihm liegt schon das, was ich hier jeden Tag kaufe. Eine Zeitung und einen Strauß rote Rosen. Wortlos gebe ich ihm das Geld, zwinge mich zu einem kurzen Lächeln und gehe dann wieder raus. Thomas ist zweifelsfrei einer der nettesten Menschen, die ich in meinem ganzen Leben getroffen hat. Wir haben uns schon ein paar mal unterhalten. Durch seinen Code hatte er nie die Chance, ein normales Leben zu führen. Er durfte nicht mal in die Innenstadt. Das ist jetzt ja zum Glück vorbei. Aber obwohl er so gelitten hat und so unterdrückt wurde, ist er ein herzensguter Mensch. Nicht selten hat er mir noch eine Schokolade zu meinen Sachen geschenkt, obwohl er sich selbst so einen Luxus kaum leisten konnte. Oder manchmal hat er mir den Preis ganz erlassen, obwohl er von dem Erlös des Kiosks leben musste. Oder er hat mich einfach nur umarmt oder mir zugehört, wenn ich alles was ich auf dem Herzen hatte, loswerden musste. Ich hab ihn wirklich gerne. Während ich weiterlaufe, schlage ich die erste Seite der Zeitung auf. Schneeflocken landen auf dem dünnen Papier und weichen es schnell auf, deswegen überfliege ich nur die Überschrift und betrachte das Bild. 'Der Traum vom Fliegen: Nun endlich Wirklichkeit' lautet die fett gedruckte Überschrift. Darunter ist auf einen Bild zu sehen, wie Nick ein Rotes Band, das vor dem Eingang den Flughafens gespannt wurde, feierlich durchschneidet und damit den Flughafen wieder neu eröffnet. Ich muss Lächeln, ich wollte schon immer mal fliegen. Vielleicht habe ich jetzt mal die Chance dazu. Schnell rollte ich die Zeitung wieder zusammen, damit sie nicht zu Nass wird und schaue wieder auf meine Umgebung. Von hier ist es nicht mehr weit. Ich lasse meine Gedanken schweifen. Das Nick mal der neue Stadtpräsident wird, war irgendwie klar. Jemand besseren hätten wir auch gar nicht wählen können. Er baut die Stadt langsam wieder auf und sorgt für Gleichheit und Gerechtigkeit. Und natürlich hat es auch Vorteile, mit dem Stadtpräsidenten so eng befreundet zu sein. Es fehlt mir an nichts. Ich war so in Gedanken, dass ich erst jetzt merkte, dass ich an meinem Ziel angekommen war. Der Friedhof.

Der Friedhof war außerhalb der Stadt errichtet worden. Durch ein einfaches Tor in der dicken Stadtmauer kam man auf ein eingezäuntes Stück der großen Wiese. Noch weiter hinten konnte man den Waldrand sehen. In diesem Wald war damals die Bärenhöhle 2.0 errichtet worden. Ich erinnerte mich noch genau, wie ich dort damals zum erstmal seit langer Zeit meine Eltern wieder getroffen habe. Inzwischen bewohnten die beiden wieder unser altes Haus und ich besuchte sie dort ab und zu. Sie hatten sich ganz gut erholt. Ich ließ meinen Blick weiter über die Reihe von Gräbern schweifen. Viele davon damals von unserem Überfall auf CodeSystems. In diesem Jahr waren jedoch einige dazu gekommen. Ich musste es ja wissen, ich war jeden Morgen hier. Deswegen kannten meine Füße den Weg, den ich gehen musste, auch schon auswendig und ich konnte meine Gedanken schweifen lassen. Die Sonne ging gerade über der Stadt auf und ich lächelte. Ein weiterer Grund, warum ich hier jeden Morgen hin komme: kein Ort erinnert mich so sehr an den Raum der Gefallenen. Und dort habe ich mich immer sicher und geborgen gefühlt. So ähnlich war es hier auch. Ich fühlte mich nicht allein. Vielleicht, weil so viele Seelen hier ruhen. Inzwischen war ich vor dem ersten Grab angekommen. 'James Winter' stand auf dem grauen Grabstein. Er war ein riesiges Arschloch. Aber eben trotzdem mein Bruder. Ich legte eine der roten Rosen auf sein Grab und ging dann weiter. Am nächsten Grab blieb ich stehen, aber er bekam keine Rose. 'Dennis Morgan'. Kein Mensch hat mir physisch und psychisch mehr weh getan als er. Er hat weder eine Rose, noch eine Träne verdient. Schnell gehe ich weiter. Ein paar Reihen weiter lag dann das Grab von 'Jasper Flynt'. Auch er bekam eine rote Rose. Klar, er hat mich vergewaltigt und mir unglaubliche Schmerzen zugefügt. Aber dafür, dass er mir am Ende gesagt hat, wo Alex war, stehe ich wohl ewig in seiner Schuld. Außerdem tat ich das auch für Flynt, also Ben. Ihn hat Jaspers Tod unheimlich mitgenommen, auch wenn er es nie offen zugegeben hat. Aber sowas sieht man Menschen einfach an. Leise ging ich weiter und auf dem nächsten Grab legte ich gleich den halben Strauß ab. Astrid. Wie immer kamen mir die Tränen. Vor allem wenn ich an Bastian dachte. Er war am Boden zerstört und todunglücklich. Ich habe im letzten Jahr viel Zeit mit ihm verbracht und ein bisschen auf ihn aufgepasst. Das er keinen Mist baut und so. Außerdem konnten wir uns gegenseitig gut trösten. Astrid fehlte mir sehr. Flynt hatte mir erzählt, dass sie schon tot war, als er sie gefunden hatte. Verblutet. Er hat sich dann nur noch selbst schnell in Sicherheit gebracht. Ich gab mir oft die Schuld an ihrem Tod. Weil ich Bastian ja versprochen habe, auf sie aufzupassen, es aber nicht getan habe. Ich hätte sie nicht zurück lassen dürfen. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie erst gar nicht angeschlossen wird... Bastian redete mir das dann immer aus. Er sagte, er verzeiht mir. Und Astrid verzeiht mir auch. Also war es okay... irgendwie. Das einzige, was ich noch tun kann, ist, sie niemals in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich werde sie nie vergessen, niemals. Seufzend richtete ich mich auf und sah auf die restlichen Rosen in meiner Hand. Jetzt gab es nur noch ein Grab, dass ich besuchen muss.

Ich lief die langen Reihen entlang, bis ich vor dem Grab stehen blieb. Wieder wurde mein Herz schwer. Cathrin. Meine Cat. Klar, wir hatten seit der Sache mit Dennis unsere Differenzen, aber sie hatte ein gutes Herz. Sie hat zu den Rebellen gehalten, auch als Dennis und verraten hat. Ich legte die restlichen Rosen auf ihr Grab. Sie war gestorben, weil sie als Ärztin ins Gebäude gelaufen ist. Sie wollte Leute retten, Leute wie Astrid. Denen etwas zugestoßen war, die sich aber selbst nicht mehr in Sicherheit bringen konnten. Fünf Rebellen hat sie sogar sicher raus gebracht. Für den Sechsten hat sie ihr Leben gelassen. So eine mutige Frau. Auf ihrer Beerdigung hatte ich die Ehre, Fynn, ihren kleinen Bruder, kennenzulernen. Sie hatte ihn damals, als ich gerade bei den Rebellen angekommen war heimlich in mein Krankenzimmer geschmuggelt, weil er mich so unbedingt sehen wollte. Damals hatte er mein noch halb bewusstloses Ich gebeten, sie alle aus diesem Alptraum zu befreien. Als ich ihn dann auf der Beerdigung getroffen habe, hatte er mich fest umarmt und sich bedankt. Und ich habe ihn zurück umarmt. Er ist so ein süßer Junge, gerade zwölf Jahre alt. Nach den Tod seiner Schwester hat er wochenlang mit niemandem geredet. Ich lade ihn jetzt manchmal dazu ein, nach der Schule zum Essen vorbei zu kommen. Anfangs hat er immer abgelehnt, aber inzwischen kommt er oft und fragt mich dann über Cat aus. Ich soll ihm alles von ihr erzählen, was ich weiß. Die schlechten Details lasse ich dann natürlich weg. Aber er ist ein netter Junge, ich habe ihn echt gerne. Seufzend sah ich auf und ging langsam vom Friedhof. Es war schwer, hier her zu kommen, aber auch irgendwie befreiend. Es war mir wichtig. Deswegen gehe ich auch jeden Morgen hier her. Es hilft mir, mit dem Verlust dieser Menschen umzugehen. Und es gibt noch etwas, das mir hilft. Oder eher jemand. Meine Schritte werden leichter, beschwingter, je weiter ich mich vom Friedhof entferne. Inzwischen erwacht die Stadt auch langsam zum Leben. Leute gehen arbeiten. Ich muss mich demnächst auch mal nach einem Job umschauen. Dieses Jahr war ein einziges Durcheinander. Aber inzwischen bin ich bereit, abzuschließen, das Alte hinter mir zu lassen. Ich fühle mich bereit, etwas Neues anzufangen. Vor fünf Wochen bin ich achtzehn geworden und habe meinen Schulabschluss nachgemacht. Es wird Zeit, dass ich mein Leben lebe. Mein Blick fällt auf meine linke Hand, durch deren Handfläche mein Code leicht durch schimmert. Er wird mich immer erinnern. Aber ich will auch nicht vergessen. Alle sollen wissen, was passiert ist, damit das selbe nicht nochmal passiert. Als ich zu Hause ankomme, schließe ich mit dem Haus Schlüssel die Haustür auf und gehe die Treppe in den fünften Stock. Dort bewohnen wir eine kleine Wohnung. Als ich die Türe öffne, steigt mir der Duft von Kaffee in die Nase. Ich muss Lächeln und rufe "Bin wieder da!". Alex tritt lächelnd und nur in Jogginhose in den Flur. Oben ohne. Der Junge weiß, wie er mich um den Verstand bringt. "Hallo Kleine" grinst er (wahrscheinlich weil er meinen Blick bemerkt hat) und küsst mich zur Begrüßung innig. Das einzige, was von unserer gemeinsamen Vergangenheit zeugt, sind die langen Narben, die dick und rot über seinen ganzen Oberkörper und Rücken verlaufen. Er denkt, sie machen ihn hässlich, aber ich finde sie sexy. Als ich mich von ihm löse, lege ich die heute Zeitung auf die Kommode "Nick hat den Flughafen eröffnet. Ich wollte schon immer mal fliegen...". "Dann müssen wir wohl mal verreisen" lächelt er, seine Lippen streifen die Haut an meinem Hals "Wo willst du denn hin?". "Keine Ahnug... Hast du Ideen?" fragte ich, vorallem weil ich mich mit seinen Lippen an meinem Hals auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. "Ist mir egal, so lange du bei mir bist" brummt er und ich muss lächeln "Immer".

~~~ Ende ~~~



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