Kapitel #044

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Die Situation war völlig unpassend, doch wir konnten nicht aufhören. Die Umwelt war ausgeschaltet und das einzige, was ich wahrnahm, waren seine Lippen. Hart, fordernd, leidenschaftlich. Das war kein sanfter, süßer Kuss. Es war einer der ausgehungerten Sorte. Wie ein Drogenabhängiger, der nach Monaten Entzug wieder seine Lieblingsdroge schmeckte. Jemand, der nach jahrelanger Diät zum ersten mal Schokolade aß. Als hätten wir beide, seit wir und kennen gelernt hatten, nur auf diesen Kuss hingearbeitet. Um uns herum flogen die Schüsse, doch wir hörten nicht auf. Und ich könnte schwören, wenn ich mich in diesem Moment von seinen Lippen gelöst hatte, wäre ich gestorben. Er war in dieser Zeit mein Sauerstoff. Er schmeckte so gut. Es war eindeutig der beste Kuss meines Lebens. Doch bevor es intimer werden konnte, löste sich Alex atemlos von mir und grinste mich schief an "Das wollte ich schon lange tun". Ich brachte kein Wort über die Lippen, so überwältigt war ich, deshalb nickte ich nur. "Aber das hier ist definitiv der falsche Moment für sowas" sagte er wieder etwas ernster, doch immer noch zufrieden grinsend "Ich bring dich jetzt hier weg". "Die Tür ist verschlossen, also tritt einen Schritt zurück, damit ich raus klettern kann" wies ich ihn an, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Diese zitterte jedoch, was ihm nicht entging. Sein selbstzufriedenes und fast triumphierendes Auflachen ließ mich erröten. Doch schließlich tat er, was ich ihm gesagt hatte, und zog mich aus dem Autofenster. Kaum stand ich auf der Straße, reichte Alex mir ein paar Wurfmesser. Erst wollte ich ablehnen, weil ich mir sicher war, dass ich niemanden damit töten kann. Doch als ich sah, was für ein Chaos um und herum herrschte, nahm ich sie dankend an. "Bleib dicht bei mir" wies mein Trainer mich noch an und lief dann schon eilig los. Ohne zu zögern folgte ich ihn mitten ins Getummel.

Es herrschte das reinste Chaos und trotzdem war es auf irgendeine Art... strukturiert. Wenn man aufmerksam vorging, konnte hier keiner einem wirklich was anhaben. Ich glaube sogar, das wir es ohne Waffen durch den Kampf geschafft hätten. Man musste nur wissen, wie man sich bewegen musste, um nicht aufzufallen. Die meisten hatten sich nämlich auf einen oder zwei Gegner konzentriert und kaum Augen für das Geschehen um sie herum. Polizisten wie Rebellen. Wenn man sich also immer ein bisschen so verhielt, als wäre man im Kampf und höchst konzentriert. Dann ließ jeder seinen Blick über einen streifen, als wäre man unsichtbar. Naja, bei "normalen" Leuten lief das wahrscheinlich doch ein bisschen besser als bei uns, aber dafür, dass es bei diesem Kampf ja offensichtlich um mich ging, reagierten die wenigsten auf mich angemessen. Wie gesagt, viele nahmen gar keine Notiz von mir. Und die, die es doch taten, hatten wenig später ein Messer im Bein stecken. Oder wurden von irgendwelchen anderen aufgehalten. Also lief die ganze Aktion mal ausnahmsweise ohne Katastrophen. Ich folgte einfach Alex' breitem Rücken. Er räumte vor mir den Weg frei und ich deckte ihn. Ich würde sogar behaupten, wir sind ein wirklich eingespieltes Team. Es dauerte ein bisschen, doch nach einiger Zeit hatten wir es aus dem Menschenauflauf, der sich um die abgehalten Fahrzeuge gebildet hatte, geschafft und liefen über die leere Straße. Da das sehr riskant war, beschleunigte Alex seine Schritte wieder. Ich hatte ein bisschen mühe, mit ihm Schritt zu halten, ließ mir aber so gut wie möglich nichts anmerken. Ich weiß nicht, ob es an der Schwangerschaft lag oder daran, dass ich in letzter Zeit überhaupt nicht trainiert haben. Oh Gott, die Schwangerschaft... Alex wird begeistert sein. Nicht. Mir graute es jetzt schon davor, mit ihm darüber zu reden. Denn das werde ich ohne Zweifel tun müssen. Aber das hatte ja noch etwas Zeit. Die Hauptsache war, dass er wieder da war. 'Okay, genug geschnulzt, konsternier dich' ermahnte ich mich selbst und schloss wieder zu meinem Trainer auf. Dieser bleib jedoch kurz darauf so ruckartig stehen, dass ich fast in ihn hinein rannte. "Was?" fragte ich irritiert. Er lächelte mich an "Wir sind da". Verwirrt schaute ich mich um. Dann breitete sich ein grinsen auf meinen Lippen aus, als ich ihn erkannte. Den Zugang zum westlichen Stützpunkt.

Wir kletterten wie damals in den Zweiten Stock und stiegen durch ein angelehntes Fenster in die leerstehende Wohnug. Dort gingen wir wieder das Treppenhaus nach unten und kamen schließlich in den Gang mit der Zeichnug von dem fetten Pferd, das auch ein Nilpferd sein könnte. Andächtig strich ich über das hingeschmierte 'K.F. diese Hobelschlunze'. Ich könnte glatt anfangen zu weinen, so schön war es, wieder hier zu sein. Nachdem die Bärenhöhle zerstört wurde, waren mir nicht viele Orte geblieben, an denen ich mich zu Hause fühlte. Doch der westliche Stützpunkt war eindeutig einer dieser Orte. Als wir durch die milchige Tür in den Vorraum traten, fühlte ich mich ungewöhnlich geborgen. Und dieses mal schenkte ich dem bunten Kissen mit 'Einhorn Kotze' keine beachtung. Stattdessen warf ich mich in Astrids Arme, die wohl schon auf uns gewartet hat. "Lucy" seufzte sie nur und drückte mich an sich. Ich hingegen sagte in Dauerschleife "Er lebt. Er lebt. Er lebt. Astrid, er lebt. Bastian lebt". Ich hörte die Tränen in ihrer Stimme, als sie inbrünstig sagte "Ich weiß, Lu. Du hast es versprochen. Danke". "Er lebt" erweiterte ich nur und hielt sie so fest umschlossen, wie ich konnte. Ich weiß nicht genau, wie lange wir nur dastanden und die Anwesenheit des anderen genossen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie mir so sehr fehlt. Doch nach einigen Minuten lösten wir uns voneinander und Astrid wischte sich schnell die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann wandte sie sich mit einem warmherzigen lächeln an meinen Begleiter "Und du bist?". "Alex" lächelte er "Ich gucke, dass Lu nicht zu viel Mist baut". "Hey-" beschwerte ich mich, doch Astrid fiel mir ins Wort "Das ist gut, so jemand braucht sie auf jeden Fall". Als sich die beiden auch noch zuzwinkerten, verschränkte ich gespielt beleidigt die Arme und gab ein empörtes Schnauben von mir. Alex lachte und zog mich von hinten an seinen Bauch. Jetzt spürte ich sein Sixpack im Rücken, was meine Konzentration nicht gerade steigerte. Im Gegenteil, ich verpasste total, was Astird als nächstes sagte. Deswegen lächelte ich einfach und hoffte, dass es keine Frage war. Doch sie durchschaute mich und grinste mich an "Du hast keine Ahnug, was die Frage war, oder?". "Najaa..." wich ich aus, war aber zu fasziniert vom zusammenziehen von Alex' Bauchmuskulatur, wenn er lacht, um eine bessere Antwort abzugeben. "Ich hab gefragt, ob du was essen willst. Du siehst ziemlich mager aus" wiederholte Alstrid ihre Frage. "Ja, gerne" antwortete ich und folgte ihr mit Alex in die Küche.

"Gurken. Was sonst" stellte ich etwas ernüchtert in der Küche fest. Astrid lachte auf "Ach komm, gib es zu: du hast sie vermisst". "Höchstens ein kleines bisschen" grinste ich und steckte mir eine Gurkenscheibe in den Mund, ehe ich Alex die Schale anbot. Dieser lehnte dankend ab also stellte ich sie wieder auf den Holztisch. Dann wandte ich mich an die beiden "Wie geht es jetzt weiter?". Alex antwortete "Also, ein paar Rebellen werden noch hier her kommen. Die anderen Teilen sich auf die anderen Stützpunkte in der Stadt auf. Sobald sich die Lage etwas entspannt hat, kehren wir zurück vor die Mauer der Stadt. Ein geeigneter Platz für eine Bärenhöhle 2.0 wurde gefunden. Dort treffen wir uns dann wieder, du wirst fertig ausgebildet, stürmst den Regierungspalast und stürzt die Regierung. Die Rebellen kommen an die Macht, schaffen die Codes ab und alle sind glücklich". Wegen seinem Ende verdrehte ich die Augen. 'Frühstens in circa neun Monaten' flüsterte eine Stimme in mir drinnen, doch ich wagte es noch nicht, es laut auszusprechen. Stattdessen fragte ich weiter "Bastian meinte vor einigen Tagen, dass bei den Rebellen ziemliches Chaos herrscht. Was ist los?". Jetzt wich mein Trainer meinem Blick aus und sagte vorsichtig "Nicht ausflippen, okay?". Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen "Okay. Und jetzt rede". "Erinnerst du dich daran, als Flynt dich entführt hat, im Wald? Das wir gleichzeitig auf Suche nach einem neuen Hauptquartier waren? Und angegriffen wurden?" wollte er wissen und musterte mich dabei aufmerksam, um meine Reaktion einzuschätzen. Ich setzte mein Pokerface auf, doch innerlich tobte ein Sturm in mir. Verdammt, das habe ich ja total vergessen. "Was ist passiert?" fragte ich und versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen. Doch ich war mir sicher, dass Alex die Nervosität darin genau hörte. "Wir... wir haben es nicht alle geschafft" flüsterte er "Es waren einfach zu viele". Ich schloss meine Augen und kämpfte gegen Panik, Angst und Tränen "Wer?". "Du musst keine Angst haben, Lu. Wir schaffen das auch so und außerdem-" fing er an, doch ich unterbrach ihn wirsch "Wer, Alex?". Er seufzte verzweifelt auf "Colin. Colin Hawkins".

"Colin ist tot?!" rief ich fassungslos. Alex senkte den Blick "Er ist bei dem Kampf umgekommen, die anderen wurden zum Glück 'nur' schwer verwundet". Ich war geschockt. Nicht, dass ich Colin soo nah stand, aber er war trotzdem immer irgendwie... mein Boss. Er hatte einen stricken Plan, wie er die Revolution mit mir durchführen wollte. Keine Ahnug, wie er mit seinen 15 Jahren es geschafft hatte, über alles den Überblick zu behalten, aber er hatte es getan. Und er war irgendwie genau der richtige Mann dafür. Wie sollten wir eine Revolution ohne ihn an der Spitze schaffen? "Wer hat die Führung übernommen?" meldete sich da Astrid zu Wort, die auch etwas schockiert wirkte. Alex zuckte mit den Schultern "Keine Ahnug. Als ich gegangen bin, um bei dieser Mission zu helfen, waren sie gerade am diskutieren. Aber ich habe Meldung erhalten, dass ein neuer Anführer und ein neues Lager gefunden wurde. Also lassen wir uns überraschen". Astrid wollte gerade etwas eriwiedern, als die Tür geöffnet wurde und sie sofort verstummte. Ich drehte mich um und konnte mir ein lächeln nicht verkneifen. In der Tür stand Bastian und blicke die Rothaarige intensiv an. Einen Moment schien die Zeit still zu stehen, dann machte Bastian drei große Schritte auf sie zu, zog sie an sich und küsste sie. Ihr Kuss war so intim und gefühlvoll, dass ich mich abwenden musste, um mir nicht wie ein Spanner vorzukommen. Jedoch war trotz Colins Tod meine Laune wieder ganz oben. Keiner hatte so sehr ein Happy End verdient, wie die beiden. Ich wandte mich zur einzigen weiteren Person im Raum: Alex. Auch dieser wirkte deutlich glücklicher als vor ein paar Minuten. Mit einem Kopfnicken Richtung Tür, fragte er mich, ob wir den Raum verlassen sollen. Ich nickte nur und ließ die Küche hinter mir. Mein Trainer folgte mir schweigend. Als die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, drehte ich mich zu ihm um und fragte vorsichtig "Was ist das eigendlich? Also das zwischen uns?". Er grinste und kam einen Schritt auf mich zu "Ich weiß nicht. Ich bin Single, du bist Single...". "Jaaa...?" erwiederte ich und verbot mir selbst, zu viele Hoffnungen zu haben. Nicht, dass ich enttäuscht werde. Jetzt stand er direkt vor mir und ich musste den Kopf in den Nacken legen, um den Blickkontakt halten zu können. Langsam strich er mir eine imaginäre Strähne hinters Ohr "Wollen wir zusammen Single sein?". "Ja... zusammen" wiederholte ich flüsternd. Er lächelte triumphierend, beugte sich herunter und küsste mich mit allen Gefühlen. Seine Hände landeten automatisch auf meiner Hüfte und ich vergrub meine in seinem weichen, braunen Haaren. Und obwohl dieser Kuss fantastisch war und einer der besten, die ich je hatte, konnte ich ihn nicht wirklich genießen. Es lag mir etwas auf der Seele, was ich ihm sagen musste, bevor das mit uns wirklich funktionieren konnte. Alex merkte, dass ich mit den Gedanken woanders war und löste sich von mir "Was ist los?". Ich seufzte schwer "Ich muss dir was sagen. Ich... ich bin schwanger".

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