Kapitel #029

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Vor Nervosität drehte ich mich auf dem Drehstuhl langsam hin und her. Meine schwitzigen, eiskalten Hände wischte ich schon zum hundertsten mal an meiner schwarzen Hose ab und meine Augen flogen ruhelos durch das Büro. Mal fixierte ich ein paar der bunten und nichtssagenden Landschaftsbildern an der Wand, mal die Stapel an Unterlagen auf dem schlichten Bürotisch vor mir. 'Colin Hawkins' stand auf einem kleinen Namesschild. Ja, nachdem ich Gefühlte Jahre in dieser Zelle gesessen hatte, wurden die Kameras wieder aktiviert. Ab dann dauerte es geschätzt wohl eine Minuten, bis eine Wache mich abholte und ohne Umwege in Colins geschäftliches Büro brachte. Und jetzt saß ich hier und wartete auf Colin - und mit ihm wahrscheinlich auf eine gehörige Standpauke. In der Sekunde öffnete sich die Tür und der fünfzehnjährige Rebellenanführer trat hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. Dann schwieg er mich erstmal an und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Ich wagte es nicht, die Stille zu brechen. Desshalb sagte ich nichts und senkte den Kopf. "Lucy, Lucy..." fing er irgendwann an und schüttelte theatralisch den Kopf "Was machst du nur für Sachen?". Es war absurd, aber in diesem Moment erinnerte er mich extrem an meinen Vater. Schnell verscheuchte ich den Gedanken, Colin war schließlich ein Jahr jünger als ich! "Ihr wolltet mir ja nicht sagen, wo meine Eltern sind" sagte ich trotzig und hob mein Kinn. Irgendwie hatte Flynt ja recht. Hier vertraute mir keiner. Mein gegenüber legte den Kopf schief "Und für diese simple Sache rennst du gleich zum 'Feind' und befreist ihn? Interessantes Verhalten. Du bist wirklich egoistisch. Gefährdest die ganze Bärenhöhle für deine Wünsche". Plötzlich fühlte ich mich schlecht. Was hatte ich nur getan? Klar, Flynt meinte, er hält sein Wort und sagt nichts, aber wer garantiert, dass er das wirklich tut? Ich bin so... dumm. "Es tut mir so leid" flüsterte ich deshalb und schaute auf meine Hände in meinem Schoß "Ich hätte besser überlegen müssen". Colin atmete schwer aus "Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Du musst noch sehr viel lernen, Lucy Winter. In der Regierung arbeitet vielleicht jeder für sein Eigenwohl, aber hier arbeiten wir zusammen. Wir sind ein Team, okay? Und so achten wir auch aufeinander. Ich werde dich heute ohne Strafe gehen lassen, wenn du mir versprichst, die nächsten Wochen hart zu trainieren und auf das zu hören, was Alex und andere dir sagen. Sowas darf auf keinen Fall nochmal vorkommen. Wir zählen hier auf dich, Lucy". Fest schaute ich ihm in die Augen "Ich werde es wieder gut machen, versprochen". Er nickte "Ach, und noch was. Du darfst heute deine Eltern wieder sehen".

Überrascht riss ich die Augen auf "Warum... also... woher der plötzliche Sinneswandel?". Colin zuckte mit den Schultern "Erstens weißt du jetzt sowieso, wo sie sind und da wäre es nur eine Frage der Zeit, bis du dich nachts wieder zu ihnen schleichst. Und ich habe definitiv nicht die Leute, dich und deine Eltern Tag und Nacht zu bewachen. Zweitens motiviert es dich sicher, sie gesund zu sehen. Außerdem" jetzt schaute er mir tief in die Augen und legte eine Hand sanft auf meine Schulter "vertrau ich dir, Lucy". Ich wand mich unter seinem Blick. Dieses Vertrauen hatte ich auf keinen Fall verdient. Endlich wandte er sich von mir ab, gab einer Wache, die wohl die ganze Zeit neben der Tür gestanden hatte, mir aber jetzt erst aufgefallen war, ein Zeichen. Dann verließ er das Büro. Die Wache hingegen blickte mich an und sagte "Ich bringe Sie jetzt zu ihren Eltern". "Ist es nicht mitten in der Nacht und sie schlafen?" gab ich zu bedenken, doch die Wache lachte nur auf "Es ist schon der nächste Morgen, Miss Winter. Ich bin sicher, Ihre Eltern sind schon wach. Außerdem beginnt Ihr Trainig in zwei Stunden, desshalb müssen wir uns jetzt auch ein bisschen beeilen". Zögerlich folgte ich dem Mann auf den Gang und fragte, während wir die weißen Flure durchquerten "Darf ich sie denn jetzt öfters sehen?". Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu "Das müssen Sie zwar mit Mr Hawkins klären, aber ich denke, dass dürfte kein Problem sein". Ich nickte nur und lief weiter schweigend neben der Wache her. "Es ist nicht mehr weit" sagte er nach ein paar Minuten und etlichen Abzweigungen "Nur noch durch diesen Gang und-". In dem Moment brach er ab und blieb ruckartig stehen. Genau so wie ich. Denn was sich in diesem Gang abspielte, verschlug mir den Atem und trieb die Tränen in meine Augen.

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