Kapitel #048

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Eilig stolperte ich aus dem Krankenzelt und wollte erstmal nur weg. Alleine sein. Ich wollte mir in Ruhe darüber klar werden, was das für mich bedeutet. Wollte mich beruhigen. Und ich wollte auf keinen Fall, dass irgendjemand meine Tränen sieht. Aber natürlich funktionierte das so nicht. Hinter mir hörte ich Alex Stimme rufen "Hey, Lu! Wo willst du hin? Ist alles okay?". Da sprintete ich los, quer über die Lichtung und wollte raus in den Wald. Ich wollte jetzt nicht mit Alex reden. Weit kam ich jedoch nicht. An diesem Ästetor, dem Ausgang der neuen Bärenhöhle, hielten mich die beiden Typen, die dort wache hielten, fest. "Lasst mich los" schluchzte ich verzweifelt und wand mich in ihrem Griff. Doch die beiden wirkten unbeeindruckt "Wir haben die Anweisung, sie nicht alleine in den Wald zu lassen, Miss Winter". "Bitte" sagte ich verzweifelt, doch ich wusste, dass Alex mich schon eingeholt hat. Ich spürte seinen brennenden Blick in meinem Nacken. Er umschlang mit seinen Armen meine Tailie und zog mich gegen seine Brust "Ist okay. Ich werde sie in den Wald begleiten. Wir sind bald wieder da". Die Wachen nickten und ließen mich los. Stattdessen hob Alex mich hoch und trug mich tiefer in den Wald, wahrscheinlich damit ich nicht wieder auf die Idee kam, wegzurennen. Eine Zeit lang folgte er schweigend dem Bach, der auch durch die Bärenhöhle 2.0 floss. Als das Hauptquartier weit genug weg war, setzte er sich auf einen umgefallenen Baumstamm und hielt mich dabei mit einer Hand auf seinem Schoß fest. Mit der anderen strich er mir Strähnen aus meinem Gesicht oder wischte mir Tränen von den Wangen. Mit vor Sorge gerunzelter Stirn sah er mich an und frage sanft "Was ist los, Lu?". "Ich bin ein Mörder, Alex" sagte ich bitter und wieder liefen mir Tränen über das Gesicht "Ich habe das Kind umgebracht. Ich bin eine Rabenmutter". "Das Kind ist tot?" fragte er überrascht. Ich nickte niedergeschlagen "Fehlgeburt. Wegen mir. Ich habe es getötet. Es war der dumme Käse. Und die Erkältung. Ich bin Schuld". Alex legte sein Kinn auf meinen Scheitel und fuhr mir beruhigend über den Rücken "So darfst du nicht denken, Lu. Du bist keine Mörderin. Es sollte so kommen. Und im Grunde... ist es doch besser. Ich meine... das war das Kind deines Vergewaltigers". "Genau darüber wollte ich ja ALLEINE nachdenken" betonte ich leise. Seufzend setzte mein Trainer mich neben sich auf den Baumstamm und stand dann auf "Okay. Ich geh wieder ins Lager, du kannst hier bleiben und nachdenken. Aber nur hier, Lucy. Und egal zu welchem schluss du kommst, mach bitte keinen Mist und komm ins Lager zurück, ja? Für mich. Missbrauche mein Vertrauen nicht". "Danke, Alex" sagte ich leise, doch da hatte er sich schon abgewandt und folgte dem Bachbett Richtung Bärenhöhle. Und ich war endlich allein.

Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Gedankenverloren starrte ich auf das friedliche Bachbett. Ich fühlte mich unendlich mies. Ich war nicht traurig, weil das Kind tot war. Ich war traurig, weil ich den Tod zugelassen habe. Das ich die Schuld daran hatte. Das war nicht das, was eine werdende Mutter fühlen sollte. Ich sollte weinen, weil mein Kind tot ist. 50% meiner Gene, ein Teil von mir. Ich solle weinen, weil dieses Kind nie die geringste Chance hatte, zu leben und zu lieben. Es hatte nie Chance zu lieben und geliebt zu werden. Aber ich weinte nicht, weil es nie diese Chance hatte, ich weinte aus Schuldgefühlen. Und desswegen flossen mir noch mehr Tränen über die Wangen und ich fühlte mich noch schlechter. Als Mutter sollte ich richtig um das Kind trauern, nicht um meine Dummheit. Das hatte es verdient. Andererseits... man konnte meine Position doch durchaus nachvollziehen, oder? Ich meine, immerhin war das Kind nicht gewollt. Im Gegenteil, ich wurde vergewaltigt. Wollte ich wirklich jeden Tag in ein Kindergesicht gucken, dass vielleicht genau so aussah wie das meines Peinigers? Wollte ich jeden Tag in diese grausame Nacht erinnert werden? Nein, wollte ich nicht. Desswegen konnte ich auch nicht leugnen, ein bisschen erleichtert zu sein, das Kind los zu sein. So gemein das klang. Aber es hätte mich kaputt gemacht. 'Es macht mich auch jetzt kaputt' schoss es mir durch den Kopf 'alles was ich tu, macht mich Stück für Stück kaputt'. Ich war ein Wrack. Und noch so viel stand mir bevor. Noch ein Mord - am Präsidenten. Als hätte es nicht gereicht, dass ich mein Kind getötet habe. Als hätte ich nicht schon genug gelitten. Aber dann wischte ich mir sauer über die Augen 'Stell dich nicht so an, Lucy. Hör auf, dich im Selbstmitleid zu ertränken'. Schwerfällig richtete ich mich auf, kniete mich neben den Bach und wusch mein Gesicht. Das kalte Wasser weckte mich auf, beruhigte mich und half mir, meine Gedanken zu sammeln. Als raffte ich mich wieder auf, straffte die Schultern und ging Richtung Lager um Dennis von der Fehlgeburt zu berichten. Jetzt habe ich so lange gekämpft und gelitten. Jetzt werde ich sicher nicht aufgeben.

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