Kapitel #056

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Am liebsten wäre ich aufgesprungen und einfach raus gerannt vor Panik, doch ich hielt mich zurück. Immerhin war ich noch mit 17 Wachen in einem Zimmer, die sich alle jetzt dafür fertig machen, mich zu jagen. Schöne Aussichten. Vielleicht hätte ich den Ohnmächtigen Körper der Wache verstecken sollen... Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als die Jungs wieder anfingen zu reden. "Ich sagt doch, Goliath ist scheiße drauf..." brummte einer vom Ende des Raumes. Das eben war also Goliath, ihr Oberoffizier. "Pah, Eindringling" sagte der mit der angenehmen Stimme abwertend "Er hätte auch gleich ihren Namen sagen können". Unwillkürlich hielt ich die Luft an. "Wer, Lucy Winter?" fragte einer in den Raum und der, dessen Spint quasi direkt neben mir ist, antwortete "Wer den sonst? Keiner kommt ohne den passenden Code durch diese Tür. Es gibt nur eine Person die das kann. Natürlich Lucy Winter". Der gegenüber von mir lachte "Dann wird das hier doch ein Kinderspiel. Sie ist doch nichtmal 1,60 m groß und gerade mal sechzehn! Ein kleines Mädchen. Die haben wir doch gleich". Fast hätte ich aufgelacht. Wenn ich doch so leicht zu fangen bin, wieso hat er mich nicht schon längst unter der Bank hervor gezogen und mich verhaftet? Vollidiot. "Unterschätz sie nicht" mahnte eine junge Stimme "Sie wurde bei den Rebellen ausgebildet und wir wissen alle, dass die Rebellen gute Soldaten haben". "Hat sie schonmal jemand gesehen?" fragte jemanden weiteres aus einer Ecke des Raumes. "Ich" sagte eine ziemlich leise Stimme. Jetzt war ich aber gespannt. Die anderen Kerle offensichtlich auch. "Und?" fragte der neben mir ungeduldig, als der mit der leisen Stimme es nicht weiter ausführte. Schließlich sagte er "Das war damals, vor ihrer Hinrichtung, bevor sie geflohen ist. Ich sollte ihr nur einmal Wasser in ihre Zelle bringen. Sie hat da gerade geschlafen". "Und?" fragten ein paar Wächter weiter. Der mit der leisen Stimme wirkte jetzt etwas gereizt "Was und?!". "Maan, ein paar mehr Hinweise natürlich" sagte der Typ mir gegenüber "Je mehr wir über sie wissen, desto schneller finden wir sie, desto früher haben wir Feierabend". "Soll ich dir jetzt erzählen, wie sie geschlafen hat oder was? Sie sah halt damals ziemlich fertig aus. Zerstörte Haare und Augenringe und so. Sie sah nicht aus, also könnte sie zwei Tage später abhauen. Sie sah ziemlich tot aus". Gruselig, dass mich der Typ beim schlafen beobachtet hat. Aber gut, hatte ich mir ja denken können. Hoffentlich sind die Wächter bald fertig mit umziehen, mein Rücken tat inzwischen ein bisschen weh. Außerdem war ich inzwischen total fertig mit den Nerven. Ein paar Sekunden Ruhe würden mir guttun. "Ist sie heiß?" fragte der mit der annehmen Stimme lachend. "Schon ganz hübsch. Klein und schlank und sportlich. Hat aber anscheinend einen ziemlich tödlichen Blick drauf. Bestimmt nicht die schlechteste Wahl" sagte ein anderer und ich konnte sein dreckiges Grinsen fast vor meinen Augen sehen. Ich musste einen Würgreiz unterdrücken. Jasper hatte damals recht gehabt, als er mir eine Zukunft in der Regierung prophezeit hat. Ich würde noch viel schlimmere Schmerzen leiden als bei ihm. Ein weiterer Grund, nicht entdeckt zu werden. Doch dann fliel dem Wächter, der seinen Spint direkt neben meinem Versteck hatte, sein Oberteil runter. Es landete genau vor meiner Nase. Mein Herz stockte. Oh nein, ganz, ganz schlecht. Bitte, seh mich einfach nicht. Der junge Mann bückte sich und ich sah seinen Kopf im Profil. Er sah gar nicht so schlecht aus mir seinen schwarzen, verstrubbelten Haaren und seinen dunkelbraunen Augen, die das Oberteil vor mir fixierten. Er hatte einen hübsches, kantiges Gesicht und hohe Wangen Knochen. Eine Sekunde dachte ich, er richtet sich einfach wieder auf und bemerkt mich gar nicht. Eine Sekunde blizte Hoffnung in mir auf. Doch dann drehte er seinen Kopf und sah mir genau in die Augen.

Eine endlose Sekunde starrten wir uns an. Sein Blick bohrte sich in meinen, seine Augen vor Überraschung geweitet. Und eine Sekunde lang dachte ich 'Das wars jetzt. Das wars mit der Mission. Ich bin tot'. Doch nach dieser Sekunde rührte sich der Typ immer noch nicht und da wusste ich, dass das hier meine Chance war. Mein kleiner Vorteil gegenüber einem Raum voller bestausgebildeter Soldaten. Der Überraschungsmoment. Mal wieder. Sie hatten keine Ahnug, dass ich hier unten Sitze und sind jetzt in einer völlig unvorbereiteten Situation. Ich hingegen hatte schon die letzten 15 Minuten Zeit, mich auf diese Lage vorzubereiten. Ich habe schon hundert mal über alle möglichen Arten, hier raus zu kommen, nachgedacht. Seit dieser Goliath im Zimmer, unterdrückte ich sogar ständig den Drag, einfach aufzuspringen und wegzurennen. Doch jetzt ließ ich diesem Drang freien Lauf. Ein schmales Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich die Wache, die direkt vor mir hockte mit aller Kraft gegen die Brust stieß. Er verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und landete auf seinem Hintern. Ich hingegen sprang aus meinem Versteck. Alle Blicke im Raum lagen auf mir und auch ich ließ einmal kurz den Blick schweifen. Jedes andere Mädchen wäre bei diesem Anblick wahrscheinlich ohnmächtig geworden. Die Jungs waren wohl im weitesten Sinne zwischen 18 und 30 Jahre alt und einer war heißer als der andere. Da sie alle noch beim umziehen waren, hatten die wenigsten ein Oberteil an und man sah ihre durchtrainierten Oberkörper. Sie sahen alle wirklich schöner als der Durchschnitt aus, aber keiner war auch nur ansatzweise so heiß wie Alex. Sorry Jungs. Vielleicht machte gerade diese Tatsache mich immun gegen diesen Anblick. Während ich die Jungs musterte und sie mich, herrschte eine seltsame Stille im Raum. Jetzt sagte aber der, der auf den Boden saß "Du bist doch-". "Genau, Lucy Winter. Und ich würde nur zu gerne mit euch quatschen, aber ich hab noch viel vor. Ciao" sagte ich grinsend, wirbelte dann herum und stürzte zur Tür. "Schnappt sie!" rief jetzt der Wächter, der mir gegenüber war und gefragt hatte, ob ich heiß wäre. Er bekam mich auch am Arm zu fassen, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Ich rammte ihm meinen Ellbogen genau unter die Rippen. Er zuckte spürbar zusammen und lockerte seinen Griff. Diesen Moment nutzte ich und riss mich los. Dann stieß ich die Tür auf (bei der man von innen zum Glück keinen Code zum öffnen benötigte) und stolperte auf den Gang. Sofort sprintete ich los und schaltete im laufen mein Headset an "Alex. Wo ist das nächste Versteck?". Hinter mir hörte ich, dass ein paar Wachen mich verfolgten, doch ich war schneller und hatte auf genügend Vorsprung. Jetzt zahlte sich das ganze Lauftraining endlich mal aus. Da rauschte es kurz in meinem Ohr und gleich darauf hörte ich Alex' Stimme durch das Headset "Lucy. Bleib ruhig. In hundert Metern kommt rechts von dir das Treppenhaus. Du sprintest in den Dritten Stock. In dem Gang, der dann links von dir abgeht ist unten rechts in der Wand ein unabgeschlossener Lüftungsschacht, in den du klettern kannst. Glaubst du, du schafft das?". "Ja" keuchte ich, obwohl ich mir nicht so sicher war. Aber ich hatte keine Wahl. Hinter mir hörte ich die Schritte der Wächter, die sich irgendwelche Hinweise zuriefen. Eins war klar: sie hatten hier den Heim-Vorteil. Und wenn ich mich nicht beeile, werden sie ihn eiskalt ausnutzen und mir alle Wege abschneiden. Mit diesem Gedanken beschleunigte ich meine Schritte nochmals.

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