Kapitel #059

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"James?!" fragte ich überrascht und schockiert.

"Hallo, Schwesterherz" lächelte er mich kalt an. Da stand tatsächlich mein Bruder und richtete eine Waffe auf mich. Mein Bruder! Ich musterte ihm, so lange habe ich ihn nicht mehr gesehen... Seit fast einem Jahr. Er sah immer noch so aus wie früher. Hochgewachsen mit wuschligen, braunen Haaren. Seine grauen Augen, die denen von Mama ähnlich waren, bohrten sich in mich. Er trug einen Pulli mit V-Auaschnitt, auf dessen Brust das CodeSystems-Logo prangte: eine ausgestreckte Hand, die von einem tintenblauen Kreis eingefasst wurde. Auf der Hand war ein pechschwarzer Code zu lesen. Ansonsten trug er nur eine Jeans und einfach Lederschuhe. Wie kam er hier rein und warum zum Teufel richtete er eine Waffe auf mich? Mein Blick flog wieder zu seinem Gesicht hoch und ich schaute ihn an. James lachte auf "Süß, wie naiv du immer noch bist". Er lief durch den Raum zu Willows Leiche und stubste den töten Körper mit dem Fuß an "Du glaubst doch nicht wirklich, dass dieser Vollidiot die ganze Stadt mit allen Codes und was sonst noch dazu gehörte, leiten konnte, oder?". Ich starrte ihn verwirrt an und blinzelte ein paar mal "Du?!". Bei dem Gedanken kamen mir die Tränen. Mein Bruder war immer mein Vorbild, mein Beschützer. Wir haben so viel zusammen erlebt, so viel gemeinsam durchgemacht... Doch er blicke grinsend zu mir "Auch. Aber nicht nur. Streng deinen Kopf an, Lucy. Du bist ein kluges Mädchen, denk nach. Was kontrolliert die Stadt?". "Die Codes..." setzte ich zögerlich an. Sein grinsen wurde breiter "Und wer kontrolliert die Codes?". Ich musste schlucken, als ein Haufen Erinnerungen auf mich einstürzten. James, der glücklich nach Hause kam, weil er einen Job gefunden hat. James, der stolz beim Abendessen erzählt, dass er befördert wurde. James, der mir Berge von Kugelschreibern und anderen Werbegeschenken mitbringt. Und auf einmal ergab alles einem Sinn. "CodeSystems" hauche ich nur. Mein Bruder nickt. Ich bekomme Gänsehaut, als mit die Erkenntnis wie ein Faustschlag in den Magen trifft. Natürlich, es war von Anfang an so logisch. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen. Der Präsident war nur Schein. CodeSystems hat die ganze Macht. Sie haben ein Verzeichnis mit jedem Code. Sie rechnen die Codes für jede Person aus. Sie installieren alles Touchscreens. Und diese Stadt lebt nun mal von den Codes. Wir hatten die ganze Zeit den falschen Feind. Die Regierung tut im Grunde nichts. Die ganze Unterdrückung geht von CodeSystems aus. Von meinem Bruder.

"Aber... Wie?" fragte ich immer noch total perplex. Er lachte und erfreut sich sichtlich an meiner Verwirrtheit "Willst du wirklich die ganze Geschichte hören?". "Ja" sagte ich fest und sah meinem Bruder in die Augen. Er zuckte mit den Schultern "Danach musst du sowieso sterben, da kann ich dir auch noch die ganze Wahrheit erzählen...". Ich musste schlucken und meine Augen weiteten sich "Du wirst mich doch nicht...". "Doch, werde ich" sagte er trocken "Du lässt mir keine Wahl". Tränen sammelten sich in meinen Augen "Aber... Ich bin doch deine Schwester! Wir haben so viel durchgemacht! Wie kannst du nur?". Er lächelte nur kalt "Willst du jetzt die Geschichte hören oder nicht?". Mir wurde schlecht. Mein eigener Bruder hatte doch echt vor, mich umzubringen. Ich weiß nicht, saß schlimmer war: die Tatsache zu sterben oder die Tatsache, dass mein Bruder mich tötet. Ich denke, die Mischung aus beidem ist das, was mich fertig macht. Ich merkte, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. 'Aber noch lebe ich' erinnerte ich mich 'und solange er redet, tötet er mich nicht. Ich bin auf mich allein gestellt, von meinem Team kann mir wahrscheinlich keiner mehr helfen. Also muss ich mir selbst helfen. Ich muss mir was überlegen'. Mit diesem Gedanken schöpfte ich wieder ein bisschen Mut und nickt James zu "Schieß los". Er grinste "Im Grunde fing alles bei CodeSystems an. Nachdem ich befördert wurde, wurde ich langsam in die Firmengeheimnisse eingeweiht. Schnell merkte ich, wie viel Macht wir hatten. Aber nicht genug. Die ach-so-tolle Regierung blockte immer wieder ab, wenn wir größere Machtbereiche übernehmen wollten. Besser gesagt: unser lieber Präsident Willow ließ noch zu, dass die Codes, die ja früher nur als Schlüssel dienten, zu einer Art Ausweis wurden. Damit hatten wir viel gewonnen, aber er ließ uns nicht die komplette Macht über die Codes. Du erinnerst dich, dass auf großen Bildschirmen angezeigt werden kann, wer sich gerade in welchem Bezirk aufhält?". Ich nickte und James fuhr fort "Nun ja, auf diese Bildschirme hatten nur Polizisten und Wachen Zugriff. Als wir diese Informationen anforderten, um die Stadt besser kontrollieren zu können, verweigerte er uns das. Außerdem war er nicht mehr wirklich zu Kooperation einverstanden. Er wollte so wenig wie möglich mit uns zu tun haben. Er sagte, jeder Bürger verdient ein bisschen Privatsphäre und das wir nicht alle überwachen dürfen. Und da gab es für uns im Grunde nur noch eine Lösung: der Präsident muss weg. Und da kommst du ins Spiel".

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