Kapitel #025

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Ich lag auf einer Matratze in Astrid's Zimmer. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnug mehr, wie wir sie hier rein geschafft haben. Oder wo die ganzen Klamottenberge hin verschwunden sind. Ich war einfach nur noch todmüde, immerhin war ich schon über vierundzwanzig Stunden wach. Und dann auch noch der ganze Stress mit Bastian und so... Man könnte meinen, dass ich eigendlich, sobald ich die Chance dazu hätte, einschlafen müsste. Doch jetzt lag ich hier und das einzige was mich am einschlafen hinderte waren meine Gedanken. Sie kreisten um Bastian, um den Stadtplan, die Regierung, die leere Botschaft und natürlich Alex. Immer wieder Alex. Ich frage mich inzwischen, warum ich immer an Alex denke und nicht mal an Dennis. Immerhin ist er mein Freund und ich habe ihn ewig nicht gesehen. Komischerweise vermisste ich ihn gar nicht wirklich. Klar, er fehlte mir schon irgendwie, aber in letzter Zeit habe ich überraschend wenige Gedanken an ihn verschwendet. Wenn ich ihn von ganzem Herzen liebe, sollte ich dann nicht die ganze Zeit irgendwelche Fotos von ihm anstarren, seine Pullover tragen und an ihnen richen und so einen Quatsch? Oder wird das einfach überbewertet? Ich weiß es einfach nicht. Ich bin verwirrt und überfordert. Alle wollen Vorschritte, Erfolge, Höchstleistungen und weise Entscheidungen von mir. Aber ich komm einfach nicht mit dem Druck klar. Was ist in den letzten Wochen, Monaten, was weiß ich nur aus mir geworden? Würde mein Bruder James mich wiedererkennen, wenn ich ihn jetzt treffen würde? Ich vermisse ihn. Und Mam, Dad und Annie. Irgendwie wollte ich, dass alles wieder wie früher wird. Wo wir zusammen Mist gebaut haben und Spaß hatten. Wann habe ich das letzt mal richtig gelacht? Tränen sammelten sich in meinen Augen. In meiner Kindheit wäre ich jetzt zu James ins Bett geklettert und er hätte mich getröstet. Aber er war nicht da. Niemand, der mir wirklich etwas bedeutet war da. Ich war allein. Mit diesem Gedanken fiel ich in einen unruhigen Schlaf.


Ich schreckte mit einem Schrei aus meinen Albtraum. Dennis war darin vorgekommen. Und Alex. Mein Trainer hatte vor mir mit gefesselten Armen gekniet und mich flehend angesehen. Ich hatte eine entsicherte Waffe in der Hand, mit der ich ihm aufs Herz zielte. Und hinter mir stand Dennis und flüsterte mir die ganze Zeit ins Ohr "Na los, drück ab. Er hat's verdient. Tu es, töte ihn!". Aufgewacht war ich in dem Moment, wo ich zu Dennis herumgewirbelt bin, auf seine Brust gezielt und abgedrückt hatte. Und jetzt saß ich kerzengerade und verschwitzt mit rasenden Puls auf einer ranzigen Matratze in Astrids Zimmer und war hellwach. Langsam und völlig außer Atem fiel ich rückwärts wieder auf die Matratze und schloss die Augen. Was wollte mir mein Unterbewusstsein mit diesem bescheuerten Traum sagen? Wollte es mir überhaupt was sagen? Wohl eher nicht... In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine aufgeregte Astrid stürzte hinein. Einen Moment sah sie sich panisch um, dann entdeckte sie mich und atmete sichtlich auf. Auf meinen fragenden Blick antwortete sie "Du hast geschrien und ich dachte-". Was sie dachte werde ich wohl nie erfahren, denn sie unterbrach sich selbst und sagte "Auch egal, ich wollte dich sowieso demnächst wecken. Du hast den ganzen Tag durchgeschlafen. In zwei Stunden musst du wieder los zur Bärenhöhle". "Was?! Zwei Stunden?!" fragte ich überrumpelt und sprang auf "Aber... aber ich bin doch eben erst gekommen und überhaupt...". Astrid legte mir die Hände auf die Schultern "Keine Sorge, Lucy. Du gehst jetzt erstmal duschen, dann erkläre ich dir den Plan. Wir haben jetzt einen sichereren Weg für dich gefunden. Dieses mal geht nichts schief". Kurz sah ich den Schmerz über den Verlust Bastians in ihren Augen aufblitzen, dann hatte sie sich wieder im Griff und schob mich auf eine Tür zu, die wahrscheinlich zum Bad führte. "Frische Klamotten leg ich dir vor die Tür. Und jetzt dusch erstmal ausgiebig und spüle alle Sorgen weg" sagte sie und schubste mich ins Bad. Also stieg ich wie mir geraten unter die Dusche und ließ das warme Wasser über meinen Körper fließen. Der Schweiß und der Schmutz verschwanden im Abfluss, die Sorgen blieben.

Als ich aus der Dusche trat und den Blick hob, stand mit direkt gegenüber ein zwei Meter hoher Spiegel. Zögerlich trat ich darauf zu und betrachtete meinen Körper. Meine schwarzbraunen Haaren, die sonst in einer widerspenstigen Mischung aus Wellen und Locken von meinem Kopf abstanden, klebten mir noch nass am Kopf. Meine Graugrünen Augen schauten mich selbst kritisch an und musterten mein kantiges Gesicht mit den schmalen Lippen, der geraden Nase und den geschwungenen Augenbrauen. Kurz blieb mein Blick an meinen Wangenknochen hängen, die viel zu sehr herausstechen. Dann blickte ich über meinen Hals zu meinen knochigen, schmalen Schultern. Danach meine Brüste, die viel zu klein waren und meinen Flachen Bauch. Dank dem Trainig die letzten Wochen ließen sich meine Bauchmuskeln erahnen. An meiner linken Tailie sah man noch deutlich die Narbe von dem Schuss. Mein Blick wanderte weiter über meine Hüfte zu meine recht gewöhnlichen Oberschenkeln und blieb an meinen O-Beinen stehen. Danach blickte ich noch kurz zu meine kleinen Füßen und seufzte leise auf. Absolut kein besonderer Körper. Keine Kurven, keine wirklich weiblichen Reize, keinen großen Kussmund, nicht groß und keine geraden Beine. Verstubbelte Haare und den immer-misstrauischen Blick. Ich fragte mich ernsthaft, warum Dennis damals mit mir zusammen gekommen ist. Er könnte jede große, süße Schönheit haben. Stattdessen liebt er den Zwerg mit verdorbenen Charakter. Jetzt wandte ich den Blick von meinem Körper ab und verließ zögerlich das Bad. Tatsächlich hatte mir Astrid Klamotten raus gelegt. Natürlich als schwarz. Also zog ich die Sachen an, die mir überraschend gut passten. Dann schnappte ich mir eine Bürste und versuchte meine Haare so gut es ging durchzukämmen. Irgendwann gab ich es auf und band mein inzwischen einigermaßen getrocknetes Haar zu einem Zopf zusammen. Da wurde die Tür auch schon aufgerissen und Astrid trat mit den Worten "Oh gut, du bist schon fertig" ein. Weil ich nicht recht wusste, was ich darauf sagen soll, sagte ich schlicht "Ja". Sie musterte mich kurz, dann nickte sie und packte mein Handgelenk "Okay, dann isst du jetzt noch was, wir erklären dir, wie du vorgehen wirst und dann heißt es schon Abschied nehmen". Ich schluckte "Schon?". "Ja, keine Angst. Dieses mal geht alles gut, dass weiß ich einfach. Vertrau mir" sagte die überzeugt und zog mich zum Esszimmer.

Als ich mit Essen fertig war, hob ich meinen Blick und fragte Astrid "Also, der Plan?". Sie beugte sich vor und erklärte "Wir dachten uns, dass es zu gefährlich ist, dich nochmal an die Oberfläche zu lassen, zumindest in diesem Bezirk. Also wirst du unseren tollen Fluchttunnel nutzen. Wenn du bei der ersten Gelegenheit links gehst, kommst du in den Codebezirk, von dem aus du einfach wieder zur Bärenhöhle kommst. Die letzten Meter musst du eben sprinten, aber das schaffst du ja, da kann gar nicht schief gehen". Ja klar, kann nichts schief gehen. Hat ja schon beim letzte Mal sprinten so gut funktioniert. Man bemerke die Ironie. Aber natürlich sagte ich das nicht laut. Ich wollte Astrid nicht ihre Illusion und Hoffnung nehmen. Also nickte ich nur und stand auf. Dann folgte ich Astrid in den Gang, bis sie vor der Eisentür zum Fluchttunnel stehen blieb. Ruckartig öffnete sie die Tür und schon standen wir wieder in dem Raum mit den Schienen und dem Gleiskettenfahrzeug. "Das wirst du heute nicht nehmen" sagte meine Begleiterin, als sie meinen Blick bemerkte "Bis zur Abzweigung ist es nicht weit". Fast Schade, ich würde super gerne mal mit so einem Teil fahren und dazu werde ich bestimmt nie wieder die Chance haben. "Jetzt guck nicht so und verabschiede dich richtig, du musst los". Sofort wirbelte ich herum und umarmte Astrid "Danke für alles". Ich spürte ihr müdes Lächeln fast schon körperlich, als sie sagte "Kein Problem. Es war mir eine Ehre, unsere große Hoffnug persönlich kennen zu lernen. Aber jetzt guck, dass du gut nach Hause kommst". Mit diesen schob sie mich sanft aber bestimmt von sich weg. "Ich werde ihn retten" sagte ich todernst und schaute ihr eindringlich in die Augen "Ich werde ihn befreien und retten, versprochen". Mit diesen Worten wandte ich mich um und folgte den Gleisen, bis mich völlige Dunkelheit wie eine warme Decke umhüllte und beschützte. Wie die Ruhe vor einem Sturm.

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