Kapitel #022

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Inzwischen war die Nacht eingebrochen und ein eisiger Wind wehte. Bastian und ich standen unter einer matten Straßenlaterne und starrten konzentriert auf die Karte. Wo wir selber waren, hatten wir nach einigen Minuten Diskussion herausgefunden. Er war der Meinung, Frauen hätten sowieso keinen Orientierungssinn. Jedoch habe ich ihn eines besseren belehrt. Pff, immer diese Vorurteile... Jetzt galt es aber, den schnellsten Weg zum westlichen Stützpunkt zu finden. Mit vor Kälte zitternden Fingern fuhr ich einige Straßen entlang "Wie wäre es hier?". Er seufzte "Da müssen wir so früh den Codebezirk wechseln-". "Den müssen wir so oder so wechseln" fiel ich ihm sauer ins Wort. Langsam hatte ich kein Bock mehr. Auf die Kälte, auf Bastian, auf alles. Den Gedanken an Alex verbannte ich aus meinem Gehirn. Darum würde ich mich später kümmern. "Ja" riss mich mein Begleiter aus meinen Gedanken "Aber besser später als früher. Weil ich habe ja keinen Code, weil ich schon vor meinem sechzehnten Geburtstag zu den Rebellen gestoßen bin. Über dir Mauern klettern kann man nicht. Also müssen wir deinen Code verwenden. Allerdings bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass, sobald dein Code auf irgendeinem Touchscreen erkannt wird, in sämtlichen Wachen der Regierung alle Alarmglocken schrillen werden. Denn dann werde sie uns jagen. Und, ich weiß nicht wie's bei dir ist, aber ich hätte dann lieber nur noch eine kurze Strecke vor mir". Okay, dass war plausibel. "Was schlägst du dann vor?" fragte ich, worauf Bastian antwortete "Wir gehen hier entlang und gehen hier in den neuen Codebezirk". Sein Finger fuhr einige Straßen entlang und blieb an der stelle der Mauer hängen, wo er sie passieren wollte. Von der stelle waren es nur noch ein paar Straßen zum westlichen Stützpunkt. Eindeutig der schlauste Weg. "Gut, dann los" sagte ich, als er die Karte wieder verstaut hatte. Er nickte "Und spar deine Kräfte. Wir haben nachher einen langen Sprint vor uns".

Noch liefen wir undercover durch die leergefegten Straßen des Ghettos. Ein eiskalter Wind zog durch die engen Häuserschluchten. Ich zog meinen dunkelgrauen Hoodie enger um mich, half aber nicht viel. So schluge meine Zähne in der Stille unendlich laut aufeinander, obwohl ich versuchte mich zu beherrschen. Bastian seufzte "Hör auf so mitleiderregend mit den Zähen zu klappern. Ich würde dir ja meine Jacke geben, aber mir ist selber arschkalt". "T-toll, d-da-danke du G-Gentleman" sagte ich nur trocken. Er lachte auf "Siehst du da vorne die Tür in der Mauer? Ab da müssen wir sowieso sprinten. Da wird dir wieder warm". Tatsächlich war am Ende der Straße schon die Tür in den nächsten Codebezirk zu sehen. Misstrauisch musterte ich den Touchscreen neben ihr. Wie lange ist es schon her, dass ich eine Tür auf diese Art geöffnet habe? Gefühlte Jahrhunderte. Während wir uns dem gut beleuchteten Durchgang zum nachsten Bezirk näherten, sagte Bastian noch "Du hälst dich an mich, ja? Ich hab mir den Weg und für den allergrößten Notfall ein paar Verstecke eingeprägt. Konmt darauf an, wie schnell die hier sind. Und die drei wichtigsten Regeln sind erstes, bleibe niemals stehen, okay? Niemals. Egal wie viele Umwege wir gehen und wie fertig wir sind. Dann werden wir langsamer, aber bleiben auf keinen Fall stehen! Zweitens, bleib im Schatten. Wir haben nicht umsonst solche Klamotten an. Und drittens, leise sein. Aber das ist, denke ich, logisch. Soweit alles klar?". Inzwischen waren wir vor der Tür angekommen. "Ja, alles klar" seufzte ich leise und trat vorsichtig auf den Touchscreen zu, als könnte er beißen. "Dann viel Glück. Wir sehen und auf der anderen Seite". Ob er damit die andere Seite der Mauer oder den Himmel meinte, ließ er offen. Ich atmete tief durch "Gleichfalls". Dann drückte ich meine Handfläche auf den Touchscreen. Einen Moment passierte nichts, dann säuselte die mechanische Frauenstimme "Zugang gewährt" und die Tür sprang auf.

"Renn!" rief Bastian und wir sprinteten los. Ich lief direkt hinter ihm und achtete nur auf seinen breiten Rücken. Die ganze Umgebung um mich herum nahm ich gar nicht wahr. Und jetzt musste ich schon sagen, dass sich das Training mit Alex ausgezahlt hat. Damals wäre mir jetzt bestimmt schon die Puste ausgegangen, doch jetzt hatte ich noch unglaublich viel Energie. Fast lief mir Bastian etwas zu langsam, aber er achtete mehr auf unsere Kräfte. Das war durchaus sinnvoll, schließlich hatten wir noch ein ganzes Stück zu laufen. Noch herrschte eine unnatürliche, bedrohliche Stille. Nur unser Atem und unseren schnellen Schritte waren auf der leeren Straße zu hören. Das Adrenalin pumpte durch meinen Körper und ließ mich trotz der Dunkelheit, in der wir liefen, viel schärfer sehen. Die Stille dröhnte in meinen Ohren. Doch dann wurde sie von einem Schuss zerrissen, der uns knapp verfehlte. Ich zuckte zusammen und wurde - wie Bastian - automatisch schneller. Der Schuss kam von hinten. Sie waren also schon hinter uns, mein Begleiter hatte recht. Wie lange hatten sie gebraucht? Eine Minute, vielleicht zwei. Krass. Dann folgte ein zweiter Schuss und ein dritter. Keiner traf, wir waren im Schatten zu gut getrant, waren zu schnell für ihre Augen. Das hatten sie offensichtlich auch bemerkt, denn in der ferne hörte man die Rotoren eines Helikopters. "Scheiße" fluchte Bastian und rannte ganz an den Straßenrand, sodass einer seiner Arme die Hauswand streifte. Ganz automatisch folgte ich ihm. Nur Sekunden später war der Helikopter direkt über der Straße und sein gelber Suchscheinwerfer beleuchtete die Stelle, an der wir eben noch rannten. Dadurch, dass wir jetzt direkt an den Hochhäusern sprinteten, erfasste uns der Scheinwerfer jedoch nicht. Jetzt liefen wir vorsichtiger, darauf bedacht, nicht in das Licht zu kommen. Die Schüsse hatten aufgehört, wahrscheinlich warteten sie darauf, dass wir uns verraten. Pah, da können sie lange warten. Allerdings verlor ich meinen Optimismus so schnell, wie er gekommen war, als ich plötzlich fast in Bastian rein rannte, weil er langsamer wurde. "Was zu..." fing ich an und wollte ihn anmotzen, doch als ich meinen Blick hob, unterbrach ich mich selbst. Vor uns baute sich eine riesige Straßensperre, bestehend aus Autos, Polizisten, Scharfschützen und Scheinwerfern auf. Da kommen wir nie und nimmer vorbei.

"Was jetzt?" flüsterte ich mit zittriger Stimme. Mein ganzer Körper zitterte vor Nervosität, Angst und Anspannung. "Schnell, sie haben uns noch nicht gesehen!" zischte da Bastian und wirbelte zu mir herum. "Wa-" fing ich fragend an, brach jedoch ab, als mich Bastian plötzlich an der Hüfte packte und nach oben in Richtig der Hauswand warf. Ganz automatisch krallte ich mich an dem ersten fest, dass ich zu fassen bekam und das war nun mal das Fensterbrett eines Fensters aus dem ersten Stock, dass ungefähr auf zwei Metern Höhe lang. Gar keine schlechte Idee. Vorsichtig stützte ich mich hoch und tastete. Mist, das Fenster war geschlossen. War ja auch nicht anderst zu erwarten. Aber wir hatten keine Zeit. Sie werden bestimmt nicht lange brauchen uns zu entdecken. Also atmete ich einmal tief durch, ehe ich ausholte und mit der Faust gegen das Fenster schlug. Klirrend gab es nach und ich spürte, wie sich klitzekleine Splitter in meine Hand bohrten. Ich schnappte nach Luft, doch ich hatte keine Zeit, mich von dem Schmerz zu erholen, denn hinter uns hörte ich jemanden rufen "Da oben! Am Fenster". Mein Herz schlug gegen meine Brust, während ich mich in sekundenschnelle ins innere des Zimmers zog. Schon als die ersten Schüsse die Stille der Nacht durchbrachen, zog sich Bastian hinter mir ins sichere Haus. Auf den ersten Blick war er unversehrt. "Gehts?" fragte er knapp und deutete auf meine Hand. Zur Antwort nickte ich, dann schaute ich mich um. Wir waren hier wohl in der Küche eines gewöhnlichen Wohnhauses. In einer Küchenzeile links von uns standen eine Spüle, eine Arbeitsplatte und ein Herd, rechts von uns war das ruhige Brummen eines Kühlschrankes zu hören. Fast zu ruhig... und tatsächlich, nur einen Wimpernschlag später flogen Schüsse durch mein eingeschlagenes Fenster. Wie aus Reflex warf mich Bastian zu Boden. Dann schaute er mich todernst an "Ließ die Botschaft".

"Wie bitte?!" fragte ich leicht entsetzt und schaute Bastian ungläubig an. Da draußen standen tausende von Wachen und er denkt jetzt daran, die GEHEIME Botschaft zu lesen? Das war erstens in der Situation total unangebracht und zweites verboten. "Ja, jetzt lies schon! Und sag mir nicht was drinnen steht" sagte mein Begleiter und schaute mich ungeduldig an. "Warum? Und warum soll ich dir nicht sagen, was drauf steht?" wollte ich wissen, während ich zögerlicher das gefaltete Stück Papier aus meiner Hosentasche zog. Entnervt seufzte er auf "Hast du denn nie in Strategie zugehört? Lies sie, falls wir gefasst werden. Damit wir sie jetzt zerstören können und sie auf keinen Fall in die falschen Hände fällt". Immernoch etwas misstrauisch musterte ich meinen Gegenüber "Okay, soweit klar... aber dann solltest du es doch auch wissen...". Energisch schüttelte Bastian den Kopf "Ich werde dafür sorgen, dass du durch kommst, das habe ich versprochen. Aber für den Fall... naja, dass sie mich fassen. Und ich in Gefangenschaft komme... dann muss ich nicht lügen, wenn sie mich fragen, ob ich weiß, wie die Botschaft lautet. Lügen kann in Gefangenschaft sehr... schmerzvoll enden". Ich schluckte. So lief also der Hase. Er rechnete jetzt schon damit, sich für mich - und die Rebellen, aber hauptsächlich für mich - zu opfern. Ein bisschen plagte mich das schlechte Gewissen. Das sah man mir wohl an, denn Bastian sagte leise "Guck mich nicht so an. Ich wusste worauf ich mich einlasse, als ich mich für diese Mission freiwillig gemeldet habe. Und jetzt lies, wir haben nicht mehr viel Zeit". Drängend schaute er mich an, also faltete ich zögerlich das Stück Papier auseinander. Noch einmal schaute ich in Bastians Augen, ehe ich meinen Blick auf den Zettel senkte. Mir stockte der Atem.

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