Kapitel #032

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Mein Blick war noch immer auf die Liste mit den Namen der Toten gerichtet und Jodies Hand ruhte noch immer beruhigend auf meiner linken Schulter, als plötzlich ein extrem lauter, kreischender Alarm die Stille durchbrach. Wir zuckten zusammen und die Hand der älteren verkrampfte sich. "Was ist das?" wollte ich wissen und bemerkte, dass das Geräusch aus einem Lautsprecher neben der Treppe, die zurück in Bärenhöhle führte, kam. "Schwarz!" schrie Jodie über das in den Ohren schmerzende Geräusch zurück. Verwirrt blickte ich zu ihr "Schwarz?". "Ja, der schwarze Alarm" antwortete sie laut "Höchste Alarmstufe. Irgendwas schreckliches ist passiert. Bestimmt verkündet Colin gleich, um was für einen Notfall es sich handelt und was zu tun ist". Ich nickte und tatsächlich - nur ein paar Minuten später brach der schreckliche Ton ab und Colins Stimme ertönte. "Achtung, Achtung!" verkündete er über die Lautsprecher "Alarmstufe Schwarz! Bewahren sie Ruhe und gehen sie so sofort in den Speisesaal. Komandanten in die Kommandozentrale. Die Sauerstoffversorgung wird in allen anderen Räumen heruntergefahren. Erstickungsgefahr! Begeben sie sich sofort in genannte Räume. Ende der Durchsage". Mit diesen Worten schaltete sich Colin ab und dieser Nervenaufreibende Ton schrie wieder aus den Lautsprechern. "Komm Jodie, wir müssen hier raus!" rief ich ihr zu und lief Richtung Tür. Die Liste ließ ich einfach fallen, war jetzt auch völlig egal. Jedoch bemerkte ich schnell, das die Ältere mir nicht nachlief sondern wie zur Salzsäule erstarrt im Raum stand "Komm schon, Jo" drängte ich "Wir müssen raus, sonst ersticken wir!". Doch sie sagte nur "Geh, Lucy. Schnell!". "Und du?! Ich lass dich hier nicht alleine!" sagte ich entschlossen und ging wieder auf sie zu. "Lucy" sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen "Erinnerst du dich an meine psychischen Anfälle, von denen ich dir erzählt habe? Wegen der Mission damals?". Ich schluckte "Jetzt?". "Bitte geh" flehte sie schon fast "Ich kann nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Ich möchte dich nicht angreifen. Ich möchte dich nicht verletzten". Energisch schüttelte ich den Kopf "Wir schaffen das! Ich lass dich hier nicht alleine! Das überlebst du nicht! Ich bring dich hier raus". Einen Moment blickte sie mich traurig, verzweifelt und entschuldigend an "Es... es tut mir leid, Lu". Nur einen Herzschlag später stand in ihren Augen der pure... Wahnsinn. Bedrohlich kam sie langsam auf mich zu und ich machte mich bereit. Worauf habe ich mich hier wieder eingelassen?

Den ersten Angriffen von Jodie konnte ich noch ganz gut ausweichen, doch dann rammte sie mir ihren Ellebogen in die Seite und alle Luft entwich aus meiner Lunge. Ich hatte ganz vergessen, dass sie ja zur Freiheitskämpferin ausgebildet ist und einiges älter, stärker, größer und erfahrenerer als ich. Ich sollte es besser nicht zu einem direkten Nahkampf kommen lassen, da würde ich sicher unterliegen. Das heißt, ich muss passiv kämpfen, gucken das sie sich auspowert und mich möglichst nicht verletzt. Was natürlich eine ungünstige Tatsache ist, ist das hier langsam - aus welchem Grund auch immer - der Sauerstoffgehalt in der Luft runtergedreht wird. Das heißt wenn ich mich nicht beeile, werden wir beide in diesem Raum ersticken. Nur wie erklärt man das einer Frau, die einen psychischen Anfall hat? Das ganze schoss mir durch den Kopf, während ich immer und immer wieder Jodies Schlägen und Tritten auswich. Langsam schien das Katz-und-Maus-Spiel sie sauer zu machen. "Komm endlich her und stell dich" schrie sie und kickte mir in einem unachtsamen Moment die Füße weg. Jetzt lag ich auf dem Rücken, was extrem ungünstig war. Doch ehe ich mich aufrichten konnte trat die Schwarzhaarige mir mit voller Wucht in den Bauch. Ich schnappe nach Luft und krümmte mich zusammen. Noch ein paar mal trat sie auf mich ein, dann schaffte ich es irgendwie, mich aufzurichten und von ihr weg zu hinken. Jetzt kam ich auf die Idee, wie ich sie hier raus brachte. Sie muss mir nur hinterher rennen - mich jagen. Dazu muss ich sie nur noch ein bisschen reizen und dann so schnell ich kann zum Speiesaal sprinten. Dort konnten mir die Leute dann helfen. Zufrieden mit meinen Plan konzentrierte ich mich wieder auf Jodie, um den Plan auch in die Tat umzusetzen. Doch was ich sah, ließ mich den Atem stocken. Die Ältere hatte die zwei Messer, mit denen wir bis eben noch die Namen in dae Glas ritzen wollten, in der an sich genommen und ginste kalt und fies. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen bei dem Gedanken daran, was sie jetzt vorhatte. Und uns lief die Zeit davon, das Atmen viel mir schon schwerer als vorhin. Hoffentlich überleben wir das.

Ich beobachtete Jodies Hand genau und machte mich bereit, als sie jedoch warf, war ich nicht schnell genug. Das Messer drehte sich drei mal um seine eigene Achse, ehe es sich bis zum Schaft in meinen Oberschenkel bohrte. Vor Schmerz schrie ich auf und mir tanzten kurz schwarze Punkte vor den Augen. 'Jetzt nur nicht ohnmächtig werden' dachte ich krampfhaft, griff blind nach dem Messer in meinem Oberschenkel und zog es mit einem Ruck raus. Wieder zuckte der Schmerz durch meinen Körper und heiße Tränen rannen mir über die Wangen. Außerdem spürte ich, wie das Blut langsam mein Bein hinab floss. Na toll, ob ich damit nachher noch rennen kann? Ich schob den Gedanken beiseite und guckte wieder zu Jodie. Diese hatte inzwischen das zweite Messer in ihrer Wurfhand und zielte. Dieses mal schaffte ich es jedoch, mehr oder weniger auszuweichen. Das Messer streifte nur meine Wange und hinterließ einen langen, aber nicht sehr tiefen Schnitt. Langsam machte sich der Sauerstoffmangel in der Luft bemerkbar. In meinem Kopf hämmerten Kopfschmerzen und meine Lunge kämpfte mehr und mehr um ausreichend Sauerstoff. Aber jetzt hatte ich wenigstens einen Vorteil - ich hatte die Messer. Nicht, dass ich vorhatte, Jodie damit zu verletzen. Nur locken. Also grinste ich gespielt über die schmerzen im Oberschenkel, Bauch und Kopf und sagte "Na los, hol sie dir wieder". Um meine Worte zu unterstreichen fuchtelte ich mit den Messern herum. Ich sah den Wahnsinn in ihren Augen und würde Lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte keine Angst. Jedoch versteinerte mich die Angst nicht. Innerlich wurde ich ganz ruhig und konzentrierte mich auf das, was jetzt kam. Es wird schmerzhaft, aber da muss ich durch. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Augen fixierten Jodie, verfolgten jede ihrer Bewegungen und Gesten. Einen Moment standen wir uns bewegungslos gegenüber und musterten jeweils den anderen. Warteten darauf, was passieren würde. Dann stürzte Jodie auf mich zu und ich rannte, den Schmerz ignorierend, auf die Tür zu.

Irgendwie war die ganze Situation etwas... surreal. Ich sprintete durch die weißen Flure, in denen der Sauerstoffgehalt immer mehr gesenkt wurde. Inzwischen bemerkte man das auch richtig, vollem beim rennen. Meine Lunge schmerzte, an meinen Blickfeldrändern sah ich schon nicht mehr schaf und mein Kopf pochte. Genau so wie mein Bauch, der ja mit Jodies Schuhen Bekanntschaft gemacht hat. Mein Oberschenkel tat fast schon unerträglich weh und das Blut strömte ungehindert aus der sehr tiefen Schnittwunde. In meinen Händen hielt ich die beiden Messer, an denen mein eigenes Blut klebte. Und hinter mir rannte Jodie, die versuchte mich zu packen und immer wieder Sachen schrie wie "Bleib stehen!" oder "Ich mach dich kalt!". Natürlich, nicht gerade schön, aber es spornte mich wenigstens an, nicht stehen zu bleiben und mich meiner Erschöpfung hinzugeben. Es war ja auch nicht mehr weit bis zum Speisesaal. Drei Ecken, vielleicht fünfhundert Meter. 'Das schaff ich' redete ich mir zu, während ich gegen die Ohnmacht kämpfte 'Ich schaff das. Nicht mehr weit. Jetzt noch zwei Ecken. Komm schon! Eine'. So schalte es in dauerschleife durch meinen Kopf und motivierte mich, nochmals zu beschleunigen. Jedoch wurde ich dadurch auch unachtsamer und dann passierte das, was zwangsläufig passieren musste. In der letzten Ecke vor dem Speisesaal kam ich ins schlittern und stürzte. Scharf zog ich die Luft ein, als ich hart auf meinen verletzten Oberschenkel aufkam. Die Messer fielen mir dabei aus der Hand. So schnell wie möglich wollte ich mich wieder aufrappeln, doch da stand Jodie schon über mir. Mit einem der Messer in der Hand. Mein Puls war auf 180, ihr lächeln sagte alles. Alles, was jetzt passieren wird. Und ich konnte nichts tun. Ich war tot, auf jeden Fall. Wenn Jodie es nicht tat, würde ich ersticken. Meine Kräfte verließen mich, mein Kampfgeist löste sich in nichts auf. Das wars dann wohl. Ich hatte gekämpft und verloren. Hoffentlich schaffens die Rebellen auch ohne mich. Das letzte was ich sah, war, wie die Schwarzhaarige sich neben mich kniete und das Messer bedrohlich hob. Dann zog mich die Ohnmacht in eine schmerzlose Schwärze.

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