Kapitel #058

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Ich merkte, dass ich langsamer wurde. Die Schritte und Rufe hinter mir kamen immer näher als und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mir den Weg abschneiden. Doch dann bog ich um die nächste Ecke und sofort breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus. Hoffnung. Denn da vorne, am Ende vom Gang war sie: die Tür zu Willows Privaträumen. Sie unterschied sich stark von den anderen Türen. Alle waren weiß lackiert, doch diese Tür war aus schwerem, dunklen Ebenholz. Der Touchscreen neben der Tür leuchtete neu und unberührt. Das lag daran, dass nicht mal Wächter in die Zimmer hinter dieser Tür kamen. Allein Willow und seine engste Familie hatten den passenden Code. Und durch einen dummen Fehler eben auch ich. Diese Tür ist meine Rettung. Wenn ich dahinter bin, kann mich kein Wächter mehr fangen. Dann kann mich nichts mehr aufhalten. Obwohl meine Lunge wie Feuer brannte und meine Muskeln schmerzten wurde ich automatisch schneller. Allein die Hoffnung und mein Kampfgeist trieben meinen Körper noch an. "Schnell, schnappt sie" riefen Stimmen hinter mir. Scheiße. Inzwischen kam die Tür immer näher. Aber ich muss ja auch noch meine Hand auf den Touchscreen drücken und warten, bis sie geöffnet wird... Das kann knapp werden. Endlich erreichte ich die Tür und drückte meine Code auf den Screen. Mit der anderen Hand zog ich die Pistole, die ich dem Wächter am Eingang abgenommen habe, richtete sie auf meine Verfolger und schrie "Keine Bewegung!". Ich löste meine Augen von der Tür und beobachtete die Wachen. Es waren zehn. Der nächste stand nur ungefähr drei Meter von mir entfernt. Er schaute mich an, als ob er abschätzen würde, ob ich wirklich schieße oder nicht. Er schien wohl zu dem Schluss zu kommen, dass ich nicht schieße der er kam vorsichtig einen Schritt auf mich zu. Pah, großer Fehler, Freundchen. Ich wollte ihn aber nicht gleich töten, deswegen schoss ich ihm 'nur' ins Knie. Der Typ schrie auf und brach zusammen. Emotionslos und kalt sah ich die anderen neun an, die alle überrascht zwischen mir und ihrem Kollegen hin und her schauten. "Wer will als nächstes?" fragte ich. Keiner reagierte. In der Sekunde sagte die technische Stimme neben mir "Zugang gewährt". Ich lächelte, nahm die Hand vom Touchscreen und stieß die Tür auf. In der Sekunde schienen zwei zu begreifen, das ich gerade dabei war, ihnen zu entwischen und zogen ihre Waffen. "Stehen geblieben" rief einer von ihnen. "Leck mich" zischte ich und schlüpfte durch die Tür. In diesem Moment schlug neben mir eine Kugel ins Holz ein und ich war unendlich froh, dass sich Willow eine schwere Holztür einbauen ließ und ich nicht hinter einer dieser dünnen, weißen Türen stand. Sonst wäre ich jetzt nicht mehr sonderlich lebendig. Ich zuckte natürlich trotzdem zusammen und zögerte eine Sekunde. Eine Sekunde, die mir fast den Kragen kostete. Denn als ich die Tür zuziehen wollte, zog jemand von der anderen Seite in die andere Richtung. Und sind wir mal ehrlich, gegen mehrere muskelbepackte Kerle habe ich keine Chance. Aber ich weiß nicht, ob es mein Adrenalin war, oder meine Angst, oder mein Wille, oder meine Hoffnung, aber irgendetwas machte mich in dieser Sekunde unendlich stark. Mit einem ruck riss ich die Tür zu. Und dann herrschte Stille. Ich atmete aus. O mein Gott. Ich habe es geschaffen. Ich habe es tatsächlich lebendig und unverletzt bis in die Privaträume Willows geschafft. Ich habe etwas geschafft, dass vor mir noch keine Mensch geschafft hat. Ein lächelten breitete sich auf meinen Lippen aus. Doch dann ließ eine Stimme hinter mir das Blut in meinen Andern gefrieren. "Lucy Saphira Winter" sagte er "Ich habe dich erwartet".

Ich kannte die Stimme eigentlich nur aus dem Fernsehen, wenn er irgendwelche tollen Ansprachen hält. Nur einmal habe ich ihm bis jetzt live gesehen. Damals kam er auf unsere Schule, als sie fertig renoviert war. Er hatte Sachen gesagt wie "Dieser jungen Generation wird einmal die Welt gehören. Es ist wichtig, ihre Ausbildung zu fördern und zu unterstützten". Blah, blah, blah. Und jetzt kam ich also in den unglaublichen Genuss, ihn persönlich zu treffen. Welche Ehre. Andere hätten ihm vielleicht Stifte und Papier hingehalten, damit er seine Unterschrift darauf schmieren kann. Dieses Autogramm hatten sie dann eingerahmt in ihrem Wohnzimmer aufgehängt und ihren Enkeln davon erzählt, wie sie damals den großen, fantastischen Timothy Willow getroffen haben. Aber als ich herumwirbelte, zog ich meine Pistole und richtete sie auf ihn. Jetzt konnte ich ihn auch endlich mal mustern. Er sah anders aus. Auf den ganzen Bildern in diesem verdammten Gebäude, in den Nachrichten und in der Zeitung wirkte er immer so jung. So engagiert und dynamisch. Doch hier, wo er jetzt vor mir stand, sah er einfach nur müde aus. Seine blaugrauen Augen hatten ihren Glanz verloren und seine schwarzbraunen Haare hatten mehr graue Strähnen als sonst. Außerdem sah ich jetzt erst die ganzen Falten auf seiner Stirn und um seine Augen. Er sah nicht aus wie Anfang 50, eher wie Anfang 60. Ein alter, gebrechlicher Mann. Fast lachhaft, das er dieser Stadt das alles angetan. Er stand vielleicht so fünf Schritte entfernt in einem einfachen, weißen Hemd und schwarzer Hose. In einer Hand hielt er eine Falsche Scotch. Der Lauf meiner Waffe zeigte genau auf seine Brust. Ein Finger lang am Abzug aber ich zitterte. 'Tu es, tu es, tu es' dachte ich, doch nichts passierte. Die Zeit schien still zu stehen. Keiner von uns sagte ein Wort. Doch dann lachte er "Kann ich dir auch 'nen Scotch anbieten? Du wirkst etwas angespannt". Ich sagte nichts. Ich kämpfte mit mir selbst. Ich muss. Ich muss ihn töten. Ich habe mich nicht bis hier durch gekämpft, um jetzt die ganze Mission kaputt zu machen. Willow musterte mich, dann seufzte er "Ich bin überrascht, sie haben aus dir eine echte Killermaschine gemacht. Nicht schlecht. Aber sie lügen, Lucy. Sie haben dich von Anfang an angelogen. Ich bin nicht der Böse in diesem Spiel". "Was meinen Sie?" zischte ich und behielt ihm genau im Auge. Er lachte leicht angetrunken "Kannst du ihnen wirklich vertrauen?". Ich merkte, wie sich zweifel in mir ausbreitete. Wurde ich die ganze Zeit angelogen? Steckt mehr hinter der Geschichte, als ich dachte? Willow schien mein zögern zu bemerken und redete weiter "Tu es nicht, Lucy. Ich bin nicht der richtige". Nun wirkte er ganz nüchtern. Aus seinen Augen sprach Angst. Und noch mehr. Scheiße, der labert mich doch nur zu, oder? "Sein Sie still, sie versuchen doch nur ihr Leben zu retten. Sie würden alles sagen, damit ich nicht schieße". "Dann schieß" sagte er und breitete die Arme wie zu einer Umarmung aus. Tränen glänzten in seinen Augen. "Sag meinen Kindern und meiner Frau, dass ich sie liebe. Würdest du das für mich tun?" fügte er leise hinzu. "Scheiße" fluchte ich. Ich dachte an meine Kindheit. An die ganzen Obdachlosen, die nie die Chance auf ein normales Leben haben. Ich dachte an die Unterdrückung. Ich dachte an Alex, wie er mir alles für diesen Tag beigebracht hat. Ich dachte an den Raum der Gefallenen. Die ganzen Toten, die für diesen Moment gestorben sind. Ich dachte an Jasper. Ich stellte mir Willow vor, wie er abends nach Hause kam und seine Kinder in die Arme schloss. Wie er seine Frau küsste.

Ich dachte an alles. Ich dachte an nichts. Und dann drückte ich ab.

Die Kugel schlug genau in seine Brust ein. Langsam breitete sich eine tödliche, rote Blume auf seinem weißem Hemd aus. Willow nickte mir kurz zu, als würde er mir noch sagen wollen "Gute Arbeit". Die Flasche Scotch rutschte ihm langsam aus der Hand, fiel wie in Zeitlupe zu Boden und zerbrach in tausend Teile. Splitter und Flüssigkeit flogen umher. Fast zeitgleich sackte Timothy Willow in sich zusammen und kam hart auf dem Boden auf. Inzwischen war fast sein ganzes Hemd blutrot. Er rührte sich nicht mehr. Ich ließ die Pistole fallen, als hätte ich mich an ihr verbrannt. Mein Herz raste und mit großen Augen starrte ich den Präsidenten an. O Gott. Ich habe jemanden umgebracht. Ich. Mit voller Absicht. Jetzt wird für immer Blut an meinen Händen kleben. Habe ich das richtige getan? Ich war total durch den Wind. Vorsichtig trat ich zu Willow und kniete mich neben ihn. Ich checkte seinen Puls - mausetot. Er atmete auch nicht mehr und seine Augen waren seltsam nach hinten verdreht. Langsam hob ich die Hand und schloss seine Augenlider. Diesen Respekt hatte er verdient. Mein Papa hatte mal so einen Spruch gesagt: "Im Tod hört jede Feindschaft auf". Ich seufzte auf und rutschte von der Leiche zurück. Was ist nur aus mir geworden? Vor nicht mal einem Jahr war ich ein völlig normales Mädchen. Ich hatte eine beste Freundin, mit der ich über alles reden konnte, einen festen Freund, der für mich da war (auch wenn ich jetzt im nachhinein ja ganz froh bin, Dennis los zu sein), einen großen Bruder, der auf mich aufgepasst hat und Eltern, die mich geliebt haben. Ich war das komplett durchschnittliche Mädchen. Und jetzt bin ich eine Mörderin. Ich musste an Willows Worte denken. Er sagte "Ich bin nicht der Böse in diesem Spiel". Hatte er recht? Habe ich vielleicht jemand falsches getötet? Oder hat er das wirklich nur gesagt, um seinen Arsch zu retten? Wahrscheinlich zweiteres. Dieser Mann hat so viele Menschenleben auf dem Gewissen. Er hat den Tod verdient. Mit diesem Gedanken beruhigte ich mich etwas und richtete mich wieder auf. Zeit, bescheid zu sagen, dass ich die Mission erfolgreich abgeschlossen habe. Ich schaltete mein Funkgerät ein und fragte "Alex?". Keine Reaktion. In meinem Bauch machte sich ein unwohles Gefühl breit. Irgendetwas stimmt hier nicht. Vorsichtig fragte ich nochmal "Alex?". Dann schrie plötzlich jemand am anderen Ende des Funkgeräts. Ein Mann. Alex. Es klang, als würde er schreckliche Schmerzen leiden. Ich bekam Gänsehaut und alles in mir zog sich zusammen. Panisch fragte ich "Alex?! Was ist los?". "Lucy..." keuchte er jetzt schwer "der Präsident... ist nicht... der richtige...". Dann rief jemand im Hintergrund "Ruhe!". Es ertönte ein dumpfer Laut. Alex schrie auf. Und dann brach die Verbindung ab und es war Totenstill.

Mein Herz raste. Verdammt! Was war da los? Was ist mit Alex? Lebt er noch? Und was für Bastarde tun ihm diese Schmerzen an? Der Präsident kann ja schlecht dahinter stecken, den habe ich vor nicht mal fünf Minuten umgebracht. "Er ist der falsche" sagte Alex. Was meinte er damit? Habe ich wirklich jemand unschuldiges umgebracht? Einen Familienvater? O nein, bitte nicht... Aber wer steckt denn dahinter, wenn nicht die Leute der Regierung? Obwohl ich diese Leute nicht kannte, hatte ich schon einen richtigen Hass auf sie. Sie haben Alex weh getan, also tu ich ihenen weh. Wenn ich diese Arschlöcher finde... Meine Hände wurden zu Fäusten und ich knirschte mit den Zähnen. Was, wenn sie ihn... Also wenn sie Alex... Ich konnte gar nicht daran denken. Er war im letzten Jahr alles für mich geworden. Mein Blick fiel auf den Präsidenten. Inzwischen war er ganz weiß im Gesicht und eine kleine Blutpfütze bildete sich um seinen Bauch. Was habe ich nur getan? Mit so wenigen Worten hatte mich Alex komplett von seiner Unschuld überzeugt. Aber irgendetwas muss er ja getan haben, oder? Immerhin ist, oder eher war er der oberste Chef. Er hat alles kontrolliert, oder? Übersehe ich vielleicht etwas offensichtliches. Ich muss nachdenken. Ich brauche Ruhe und ein wenig Zeit für mich. Mein Puls dröhnte in meinen Ohren. Diese Stille war Ohrenbetäubend. Mein Blick fiel auf meine Waffe, mit der ich den ersten Mord in meinem Leben begangen habe. Fast unschuldig lag sie dort auf dem Boden. Ich sollte sie mitnehmen. Wenn ich etwas im letzten ganzen Jahr Trainig gelernt habe, dann, dass man alles, was einem nützt, mitnehmen muss. Aber ich weiß nicht, ob ich sie wieder anfassen kann, oder ob ich dann zusammen breche. Allerdings brauch ich diese Waffe, vorallem jetzt. Immerhin habe ich in angesicht der Umstände nicht vor, mich in diesem Zimmer zu verstecken und auf Hilfe zu warten. Diese würde mit 200%-iger Wahrscheinlichkeit nie kommen. Ich muss hier selbst raus. Und wenn mich nicht alles täuscht, steht vor der Tür eine Armee von Wächtern die den sinnlosen Tod ihres Präsidenten rächen wollen. Gerade in so einer Situation ist eine Waffe doch ganz nützlich. Doch als ich einen Schritt auf die Pistole zu machte, ertönte plötzlich eine Stimme "Das würde ich lassen, meine Liebe. Ich möchte dir ja nicht wehtun". Ich schnappte nach Luft und fuhr herum. Da stand er, ganz lässig an die Wand gelehnt und grinste mich an. Seine Waffe war genau auf mein Herz gerichtet.

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