Kapitel 1

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Luft.

Ich brauche Luft.

Das war alles, woran ich denken konnte, während ich taumelnd von meinem Zimmer über den Flur ins Badezimmer kroch; mein Weg verschwommen von den Tränen, die sich über mein gesamtes Sichtfeld verbreitet hatten.

Wie spät ist es? Sicherlich mitten in der Nacht. Egal.

Luft.

Mit der Hand an meiner Kehle schmiss ich mich gegen die Tür des kleinen Bads und lehnte mich mit meiner verbliebenen Kraft dagegen, während ich mit zitternden Händen versuchte, das Schloss umzudrehen. Unkontrollierte Laute drangen aus meinem Rachen, als mein Körper den verzweifelten Versuch unternahm, nach Luft zu schnappen. Die Tür öffnete sich und ich brach geradezu in das Badezimmer, meine Knie gerötet vom Krabbeln auf allen Vieren. Geschafft.

Ich konnte nur noch die Kraft aufbringen, die Tür wieder hinter mir zu verschließen, bevor ich mich langsam auf den Boden sinken ließ. Mein röchelndes Hecheln war das einzige Geräusch, das die nächtliche Stille durchbrach.

Das war nicht das erste Mal, das mir so etwas passierte, und würde mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal bleiben.

Luft.

Was hatte meine Therapeutin noch einmal gesagt? Bleib einfach ruhig und atme durch deinen Bauch, dann beruhigt sich die Situation auch wieder ganz schnell. Leichter gesagt als getan. Dennoch versuchte ich es, konzentrierte mich voll und ganz auf meine Atmung und blendete mein Umfeld komplett aus.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

So ging es immer weiter, bis auch die Zeit begann zu verschwimmen. Ob ich seit einer Minute hier saß oder Stunden, ich konnte es nicht sagen. Als ich meine von Tränen verklebten Augen öffnete, klärte sich mein vernebeltes Sichtfeld erst nach einigen Sekunden. Ich konnte nicht mehr. Jeder Atemzug sandte Schmerzensstiche in meinen Brustkorb und raubte mir die letzte Kraft, also blieb ich einfach zusammengekauert auf dem kalten Fließenboden liegen. Es war kalt und Gänsehaut breitete sich auf meinem Rücken aus, aber ich konnte mich nicht aufrichten.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Ich schaute auf die kleine Digitaluhr, die über der Tür angebracht war. 3:27 Uhr. Keine unübliche Zeit für eine Panikattacke. Ich war es gewohnt, sie nachts anzutreffen; die Angst, die ich den Tag über weitestgehend zu verdrängen versuchte, aber trotzdem ein ständiger Begleiter für mich geworden war. Dann überkam es mich oft einfach und ich wurde gestraft für die Stunden, in denen ich schauspielerte und so tat, als ginge es mir gut.

Doch es ging mir nicht gut. Ganz und gar nicht.

Trotz meiner alltäglichen Lügen war es unvermeidlich, darauf angesprochen zu werden. Die meisten waren leicht abzuschütteln mit der Erklärung, dass ich mir einfach eine starke Erkältung zugezogen hätte und daher nicht mehr so oft aus dem Haus ginge.

Doch nicht mit meiner Mutter. Jeden Tag fragte sie nach meinem Wohlbefinden, ließ einfach nicht locker und begann schon fast, mich mit meinem Zustand zu drangsalieren. Daraufhin wehrte ich mich gewöhnlich, und es gab Streit. Nichts Ungewöhnliches im Haushalt unserer Familie. Ungewöhnlich allerdings für die Gegend, in der wir wohnten. Hier ließen sich wohlhabende Männer nieder, deren Ehefrauen nichts anderes zu tun hatten, als den ganzen Tag bei Kaffee und Gebäck zu tratschen. Meine Mutter gehörte zu ihnen, wofür ich sie noch mehr verabscheute, als ich es sowieso schon tat.

Passierte nur eine kleine Auseinandersetzung in der Nachbarschaft oder darüber hinaus, wurde sofort über die betreffenden Personen hergezogen und alle kleinen, schmutzigen Geheimnisse unter gackerndem Gelächter und beschwipstem Gekicher breitgetreten. Anders jedoch war es bei mir. Mein sorgloses Erscheinungsbild warf viele Fragen bei den Etepetete-Herrschaften auf, doch da meine Mutter Mitglied in ihrer exklusiven Gruppe war, zogen sie nicht offen über mich her. Sie taten es versteckt vor der Gesellschaft, das konnte ich sehen, sobald ich nur aus dem Haus trat, was selten genug passierte. Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt, doch nur sehr selten etwas geradeheraus angesprochen; eher in hinterlistiger Manier, wie es sich für echte Vorstadtdamen nun einmal gehörte.

Natalie, was ist denn mit Scarlett los? Ich mache mir ja solche Sorgen!

Sie wirkt in letzter Zeit etwas geknickt, ist etwas passiert?

Hat sie etwa Liebeskummer?

Das waren noch die harmlosesten Fragen, die an meine Mutter gestellt wurden, doch ich wusste, dass diese falschen Schlangen irgendwann noch dahinter kommen würden, was wirklich mit mir los war. Mir graute schon jetzt vor diesem Tag. Hoffentlich würde ich dann schon nicht mehr hier sein.

Mich riss ein Klopfen aus meinen düsteren Gedanken. Das laute Geräusch bereitete mir Kopfschmerzen, und ich wünschte, ich könnte meine Ohren zuhalten und mich einfach weiterhin zusammenrollen, aber da ich mir schon denken konnte, wer dort vor der Tür stand, zwang ich mich dazu, meinen Kopf zu heben.

»Scarlett« Die gedämpfte Stimme meiner Mutter drang durch die Tür, leise und noch sehr rau, wahrscheinlich hatte ich sie mit meiner Panikattacke aus dem Schlaf gerissen. »Ist alles in Ordnung? Hattest du wieder eine–«

»Ich bin in Ordnung.« Sie sollte einfach nur gehen. Weg, weg von mir.

»Schatz, bitte mach die Tür auf.« Meine Antwort war Schweigen. Nach langer Pause hörte ich ein leises Seufzen von der anderen Seite der Tür. »Scarlett, du brauchst Hilfe. Ich weiß, du hörst mir nicht gerne zu, und ich verstehe das vollkommen. Was ich getan habe war einfach schrecklich und ich werde es mir selbst nie verzeihen können, aber ich möchte nicht, dass du dich aufgrund deines Mitwissens selbst bestrafst. Bitte lass dir helfen. Bitte. Falls du dich dafür entscheidest, sprich mit mir und ich vereinbare sofort einen Termin mit einem Therapeuten. Alles wird sich zum Guten wenden.«

Das waren ihre letzten Worte, bevor sie sich leise umdrehte und auf Zehenspitzen zurück in das Schlafzimmer meiner Eltern schlich, bedacht darauf, ja kein Geräusch von sich zu geben.

Alles wird sich zum Guten wenden.

So eine Lügnerin. Wie konnte sie so etwas von sich geben in dem Wissen, was sie getan hatte? Und wie konnte sie mich ansehen und denken, dass sich mein Zustand jemals bessern würde? Ich war ein Wrack. Entkräftet rappelte ich mich auf und stand gefährlich schwankend vor dem Waschbecken, da meine Knie immer wieder einzusacken drohten. Als ich meinen Blick hob und in den Spiegel sah, erschien mir eine geisterhafte Erscheinung als mein Spiegelbild. Ich erkannte mich selbst beim besten Willen nicht mehr. Struppiges, aschblondes Haar fiel mir in dicken Strähnen bis zu meinem unteren Rippenbogen, der unter meinem weißen Shirt sehr deutlich hervortrat. Meine Augen blickten mir emotionslos entgegen, das sonst so herausstechende Hellgrau um die Pupillen wirkte ausgewaschen. Der pure Anblick meines Abbilds löste Ekel in mir aus.

Voller Abneigung wandte ich schnell den Blick von meinem Antlitz ab und richtete meine Aufmerksamkeit nun auf meine beiden Unterarme, mit denen ich mich verkrampft am Waschbeckenrand abstützte. Auf beiden Innenseiten traten sie auf meiner blauweißen Haut noch deutlicher als sonst hervor. Als ich es getan hatte, war es je ein fein säuberlich gezogener Schnitt gewesen, doch mittlerweile hatten sich diese in wulstige, violett schimmernde Narben verwandelt.

Ich erinnerte mich noch genau an jenen Abend und daran, wie mich erst ein stechender Schmerz durchzuckte, dann jedoch das angenehme, willkommene Gefühl des warmen Blutes, das ungewöhnlich schnell aus den tiefen Wunden trat und sich als immer weiter wachsender, tiefroter Fleck in der weißen Badewanne ausbreitete.

Ich erinnerte mich, wie ich langsam von meiner Lebensenergie verlassen worden war, und obwohl ich schon die Pulsader durchschnitten hatte, ging es mir immer noch nicht schnell genug.

Ich erinnerte mich, dass ich bereit gewesen war, zu sterben.

Ich erinnerte mich.

Hätte ich es damals nur richtig gemacht, dann wäre ich jetzt nicht mehr hier.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt