Kapitel 5

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»Sie sollte sich etwas beruhigen, bevor wir sie in den Stationsalltag einführen.«

»Aber sie darf sich auf keinen Fall zu lange in ihrem Zimmer verkriechen, sonst wird sie Probleme haben, sich in die Gruppe einzugliedern und verwandelt sich in eine Außenseiterin. Das hatten wir doch schon öfters.«

Mein Kopf dröhnte.

Was ist passiert?

Da traf es mich wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ich war in der Klinik. Und ich durfte hier nicht raus. Ich musste aber weg von hier, weg von den Personen, die sich gerade neben mir versammelt hatten und über mich redeten, als wäre ich nicht da. Zu meiner großen Erleichterung schienen es aber zwei Betreuer zu sein und keine Mitpatienten. Diese Scham wollte ich mir an meinem ersten Tag ersparen.

Langsam öffnete ich meine Augen, erst das rechte, dann das linke, doch allein diese Bewegung schmerzte mich. Getrocknete Tränen verklebten meine Augenlider und ich sah nur verschwommen durch den Schleier, der sich über mein Sichtfeld gelegt hatte.

Ich will einfach nur weg hier.

»Na also, sie ist schon wach!«, rief eine weibliche Stimme, doch in meinem Kopf hörte es sich wie das Brüllen eines Löwen an. Etwas leiser, bitte!

»So, Scarlett, da du etwas ... sagen wir, verschlafen hast, konntest du leider nicht beim Mittagessen teilnehmen, wo wir eigentlich geplant hatten, dich den anderen Patienten, die sich momentan hier auf der Station befinden, vorzustellen, aber da hast du uns wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht!« Ein nervöses Kichern folgte.

Die Stimme kam mir bekannt vor und ich versuchte verzweifelt, sie irgendeinem mir bekannten Gesicht zuzuordnen, doch als dies keine Wirkung zeigte, strengte ich mich noch stärker an und kniff die Augenbrauen zusammen in dem Versuch, meine Umgebung deutlicher zu erkennen.

»Na? Noch nicht ganz wach, was?«, neckte mich eine kleine Frau mit streng zusammengebundenem, schwarzen Haar, die locker im Türrahmen stand und mich beobachtete wie ein Wissenschaftsprojekt, nicht wie einen Menschen. Und so fühlte ich mich auch.

»Das wird schon noch. Fast jeder hat hier anfangs Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen. Alles ist so neu und ungewohnt, zusätzlich kommen noch die eigenen Probleme, die einen erst hierher geführt haben. All das ist viel zu viel, um es auf einen Schlag zu verarbeiten. Keine Sorge, alle Betreuer hier wissen von deiner Diagnose.«

Keine Sorge? Ich sollte mir keine Sorgen machen? Das war die wahrscheinlich größte Lüge, die mir auf meiner bisherigen Reise von Psychologe zu Psychiater und wieder zurück aufgetischt wurde.

Und von wem wurde sie erzählt? Herr Perkins.

Der Betreuer sah mich aus seinen riesigen, dunklen Augen hoffnungsvoll an und lächelte dabei so hilflos, dass er tatsächlich aussah wie ein Maulwurf, wie ich es mir schon zuvor gedacht hatte.

»Soll das meine Stimmung heben? Denn das ist definitiv nicht der Fall«, erwiderte ich wahrheitsgemäß und voller trockenem Spott. Daraufhin waren die beiden erst einmal sprachlos.

Die kleine Frau, deren Name ich noch immer nicht wusste, ließ sich gar nicht erst weiter darauf ein und drehte sich einfach auf dem Absatz um. Sie schien wohl ganz schön ruppig zu sein. Das konnte ja kaum besser anfangen mit uns beiden. Kaum hörte man ihre lauten, schnellen Schritte langsam leiser werden, fing sich Herr Perkins wieder, räusperte sich einmal ausgiebig und begann wieder damit, mir gut zuzureden. »Hör mal, Scarlett, ich kann nachvollziehen, wie schwer und aussichtslos diese ganze Situation auf dich wirken muss-«

»Nein, das können Sie nicht. Ganz und gar nicht. Hören Sie, ich habe genau diese Rede schon unzählbar oft von allen möglichen Therapeuten sowie Ärzten gehört und langsam reicht es mir. Sie wollen, dass ich hier mitmache? Dann hören Sie damit auf, mir so eine gequirlte Scheisse zu erzählen, und kommen endlich zum Punkt. Wie lange werde ich ungefähr hier bleiben? Wann kann ich für die Wochenenden wieder in meinem eigenen Bett schlafen? Das sind Fragen, die mich tatsächlich interessieren, doch auf die ich noch immer keine Antworten habe, da man mir immer das gleiche versucht einzureden. ›Deine Gesundheit steht im Vordergrund.‹ ›Wir warten erst einmal ab, wie du dich fühlst.‹ Wie soll ich mich denn fühlen, wenn man mir keine Wahrheiten oder Fakten auf den Tisch legt und mich stattdessen wie ein benachteiligtes Kleinkind behandelt? Ich bin nicht unterbemittelt oder übersentimental, ich halte das aus!«

Geschockt von meinem plötzlichen Redefluss starrte mich Herr Perkins erst einmal ein paar Sekunden an, ohne irgendeinen Laut von sich zu geben, bis er schließlich tief ausatmete und anscheinend versuchte, seine Stimme wiederzufinden.

»Nun ja, genau das ist aber das Problem. Wir, das heißt deine Therapeutin und die Betreuer, glauben – soweit wir dich bis jetzt einschätzen können –, dass du solche Informationen aufgrund des starken Ausmaßes deiner Krankheit nicht gut verträgst. Du neigst zu selbstverletzendem Verhalten, insbesondere bei negativen Ereignissen, und obwohl wir hier gewisse Sicherheitsmaßnahmen in der Station pflegen, um solche Situationen so weit es geht zu vermeiden, haben wir manchmal unsere Augen nicht überall und Patienten tun sich selbst oder anderen schreckliche Dinge an, ohne an die folgenden Konsequenzen für sich und ihre psychische Situation zu denken«

Meinte er damit, dass ich ein kurzfristig denkendes, eingeschränktes kleines Mädchen war? Und überhaupt, was hieß ›wir haben unsere Augen manchmal nicht? Bei dem Gedanken daran, wie viele Leben schon in diesem Zimmer ihr Ende finden mussten, lief mir ein beunruhigender Schauer über den Rücken. Wie viele Selbstmörder haben schon vor mir in diesem Bett geschlafen? Vielleicht werde ich ja eine von ihnen.

Dieser Gedanke machte mich auf skurrile Weise glücklich und ich dachte automatisch an die komplette Schwärze und Leere, die mich mit offenen Armen empfinge, wenn ich es wirklich täte. Es fehlte nicht mehr viel und ich wäre soweit.

»Ich werde dann erst einmal gehen, damit du dich an deine neue Umgebung gewöhnen kannst. Falls du etwas möchtest oder jemanden zum Reden brauchst bin ich vorne im Stationsbüro. Du siehst es gleich, wenn du aus deiner Zimmertür guckst, ich werde dort bereit für deine Wünsche sein, okay?«

Ich nickte, doch wir beide wussten eigentlich schon, dass ich dieses Angebot nur über meine Leiche wahrnehmen würde – fast schon wortwörtlich.

»Gut, dann bin ich jetzt weg. Tschüssi.« Und schon schlug die Tür zu.

Einen Moment. ›Tschüssi‹? Was war falsch mit dieser Person, die eigentlich ein erwachsener Mann war und sich auch wie einer verhalten sollte? Sind hier nicht eigentlich die Patienten diejenigen, die normalerweise high sind oder andere Drogen nehmen?

Kopfschüttelnd drehte ich mich in dem schmalen Bett um, bis ich frontal gegen die Wand schaute, so wie ich es immer handhabte, wenn mir alles zu viel wurde, was eigentlich die gesamten letzten Monate beinhaltete. Es war unglaublich unbequem und da ich viel zu groß für dieses Bett war, das anscheinend für Zehnjährige entworfen wurde, musste ich mich mit einer Art Fötus-Stellung zufriedengeben.

Das Bettzeug roch muffig und unangenehm, als ob sich gerade erst jemand Fremdes darin gewälzt hatte, doch ich versuchte es so gut es ging zu ignorieren.

Da brach es einfach über mich herein.

Nicht in Form eines großen Anfalls oder gar einer heftigen Panikattacke, ich hatte keine Atemnot oder Angst zu sterben. Nein, das hier war meiner Meinung nach noch viel schlimmer: Ich weinte in kompletter Stille. Kein Schluchzen verriet mich, als die Tränen erst langsam von meinen Wimpern tropften und sich ihren Weg über meine Haut bahnten, dann aber auf einmal schlagartig zu einem stetigen Fluss wurden und meine Wangen sowie das Kissen unter mir nässten.

Hoffnungslosigkeit. Mehr fühlte ich nicht, als ich dort lag und darauf wartete, dass die Nacht endlich eintraf und mich in Dunkelheit tauchen würde.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt