Kapitel 66

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Ich verharrte automatisch in meinen Bewegungen und entgegnete Flints Blick mit dermaßen weit aufgerissenen Augen, als hätte ich einen Geist gesehen. Es genügte ein Blick zwischen uns, ein sanftes Nicken und ein vorsichtiger Gruß, denn Worte waren in diesem Moment nicht von Nöten.

Er war noch dünner geworden seit unserem letzten Aufeinandertreffen. Seine Kieferknochen stachen deutlich hervor, doch auch seine sonstigen Gesichtszüge schienen markanter und fast schon verhärtet. Seine Augen beherrschten allerdings eine andere Sprache, denn aus ihnen sprang mich die ruhige Melancholie, die mir an Flint so vertraut vorkam, geradezu an, während seine verkniffene Mundpartie deutlich unbehaglicher wirkte. Doch anstatt mir traurig in die Arme zu fallen oder zu versuchen, mir oberflächlichen Trost zu spenden, blieb Flint an Ort und Stelle stehen und erwiderte einfach nur meinen Blick. Ein Augenkontakt, der mehr Gefühle verriet, mehr Zuspruch bot und mich mehr Geborgenheit fühlen ließ als jeder der verzweifelten Aufheiterungsversuche von Betreuern, Therapeuten oder Ärzten in den vergangen Wochen.

Ich hatte ihn vermisst.

So schrecklich, so überaus schrecklich vermisst.

Ohne auch nur einen kurzen Wortwechsel reihte er sich neben mir ein und wir gingen zusammen in den kleinen Wald im Park. Es brauchte keiner verbalen Kommunikation, damit er mich verstand. Wir beide wollten uns an die großen Wurzeln der Eiche am Teich setzen und in die Welt gucken, ohne den anderen unnötig zu bedrängen.

Wir wollten allein, aber gleichzeitig nicht einsam sein.

Durch seine zaghaften Schritte wurde mir erst das Ausmaß seines aktuellen Zustandes bewusst. Seine Fersen berührten den Kiesweg kaum, während er sich mühsam seinen Weg bahnte. Ich konnte Flint anmerken, wie unangenehm ihm die gesamte Situation war. Er inszenierte sich vor mir gerne als der lockere und lustige Irre von der Station nebenan, doch in Wahrheit ging es ihm deutlich schlechter als bei unserem ersten Treffen. Sein zuvor so vergleichsweise energischer Schritt hatte sich fast schon in ein Tapsen verwandelt und die tiefblauen Augenringe, die in seinem blässlichen Gesicht prangten und deutlich hervorstachen, bestätigten meine Beobachtungen. Ihm ging es immer schlechter, obwohl er nach außen den Schein wahrte, dass die Therapie ihm half. Es war, als würde ich in einen Spiegel sehen.

Mittlerweile breiteten sich bereits vereinzelte Baumkronen über uns aus, doch der Teich war noch in für uns schwer erreichbarer Ferne. Andere hätten es mit einem kurzen Schritt in wenigen Sekunden geschafft, doch wir stiegen gemeinsam ächzend über Kleingeäst, wilde Pflanzen und Schlammpfützen, ohne uns Gedanken darüber zu machen, was der jeweils andere von uns dachte. Es ging uns ähnlich, da mussten keine Erklärungen abgegeben werden.

"Hast du noch etwas von ihr?"

Seine raue und monoton traurige Stimme durchschnitt die sonst so fröhlich wirkende Herbstlandschaft, was ich zusammenzucken ließ. Meinte er Sam? Natürlich, wen denn auch sonst, oder? Würde ich etwas Dummes sagen, sobald ich meinen Mund öffnete?

"Ja, ihre Fotos und Kuscheltiere stehen noch am gleichen Platz", erwiderte ich kurzatmig und schielte vorsichtig zu Flint, der auf meine Antwort jedoch vorerst keine Regung zu zeigen schien, weshalb ich leise weiterredete. "Ich habe sogar ihr Bett gemacht. Irgendwie habe ich so das Gefühl, sie könnte jeden Augenblick wieder ins Zimmer stürmen und mir mit glänzenden Augen von ihrem Tag erzählen. Ist das falsch?"

Mittlerweile waren wir im festeren Dickicht angekommen und kämpften uns unseren Weg bis zum Teich, der nur noch wenige Meter entfernt lag. Die Sonne warf ein warmes Licht auf das grünliche Wasser, was Reflektionen in allen Farben des Regenbogens erzeugte. Es sah wunderschön aus, doch meine gesamte Aufmerksamkeit war auf Flint gerichtet, der tief nach Luft ausholte und schließlich zum Sprechen ansetzte.

"Was ist denn schon falsch? Was ist falsch beim Trauern? Jeder bewältigt diesen Prozess auf seine eigene Weise. Manche schlucken es in sich hinunter, andere weinen sich ihre Seele aus dem Leib und wieder andere verlieren sich in Wutanfällen und den daraus folgenden Adrenalinschüben, um der noch bittereren Wirklichkeit zu entfliehen. Jede dieser Varianten hat auf die eine oder andere Weise ihre Daseinsberichtigung, auch wenn sie noch so schädigend ist. Bis man jemanden an sich heranlassen kann, muss man die Trauer mit sich selber ausmachen; sie lernen, zu beschreiben und in Worte zu fassen. Ansonsten kann man noch so viele Freunde und Familienangehörige um sich haben, die sich um einen sorgen und kümmern; wenn man nicht bereit ist, kann man nicht über die Trauer hinauswachsen. Um an diesen Punkt zu gelangen, geht jeder seinen eigenen Weg mit Umwegen, Abkürzungen und Rückschlägen. Trauern ist nie falsch, trauern ist gut. Und wenn es dir hilft, ihre Sachen da zu lassen, wo sie standen, als Sam noch gelebt hat, dann ist das richtig für dich. Diese Art und Weise der Bewältigung von Trauer ist immerhin besser als Alkohol zu trinken oder Drogen zu nehmen. Du musst nur aufpassen, dass du dich nicht in deiner Trauer verlierst".

Er sprach mit langen Atempausen und lehnte sich an die Eiche, die wir mittlerweile erreicht hatten. Unsere Schuhe waren verdreckt, seine Arme vollkommen zerkratzt von den Dornen im Gebüsch, doch mir fiel eine Last von den Schultern, die all die vergangenen Wochen und Monate auf mir gelastet hatte. Nicht nur meine veränderte Umwelt trug dazu bei, sondern auch Flints Worte. Ich hätte nie gedacht, dass ein anderer Mensch meine für ihn fremde Gefühlswelt dermaßen passend in seinen eigenen Worten beschreiben würde, doch genau das hatte er geschafft. Dieser hagere und kränklich vor mir stehende Mann mit den tiefen Augenringen und wackliger Haltung sprach meine Gedanken besser aus, als dass ich sie in Worte hätte fassen können.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt