Kapitel 35

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"Was ist mit dir, Scar?"

Sollte ich ihm wirklich von meinen Problemen erzählen? Von allem, was mich in den letzten Jahren belastete?

Wem denn sonst?

"Ich habe schwere Depressionen, eine Zwangsneurose, starke Angststörungen und psychotische Symptome."

Er erwiderte nichts, was meinen Herzschlag verdoppelte.

"Flint?"

Seine Brust senkte sich, hielt kurz ihre Position und hob sich wieder. Dann richtete er sich auf, woraufhin ich mich ebenfalls erhob, und sah mir direkt in die Augen. Durch das dichte Blätterdach über uns fielen nur vereinzelte, warme Sonnenstrahlen in sein blasses Gesicht, das in jenem Moment wacher als je zuvor wirkte. Sein Blick war auf einmal klar und voller Verständnis.

"Irgendetwas ist mit dir passiert, Scar. Ich weiß nicht, was es ist, und solange du nicht bereit bist, es mit mir zu teilen, musst du das auch nicht, doch", an dieser Stelle unterbrach er sich und unterbrach kurz den Blickkontakt, um das Gras um uns herum zu betrachten, "ich bin hier. Du hast jemanden zum Reden, wenn du ihn brauchst."

Er verstand mich.

"Danke."

Da fiel mir noch etwas ein.

"Ach, und wenn du vielleicht einmal jemanden zum Reden brauchst...-"

Das brachte ihn zum schelmischen Grinsen.

"Ich werde auf jeden Fall darauf zurückkommen."

Nach einigen weiteren Minuten, in denen wir einfach friedlich nebeneinander hockten und stumm das Naturschauspiel um uns herum aufsogen, brachen wir jeweils auf, um zurück zu unseren Stationen zu gehen. Den Rückweg über fühlte ich mich leicht und unbeschwert; alle Sorgen und Ängste über mich und meine Zukunft waren vergessen, als ich über den Innenhof wanderte und mich ins Stationsgebäude begab. Im Gruppenraum befand sich die gesamte Gruppe und spielte Brettspiele, doch ich versuchte, mich unauffällig an ihnen vorbei zu drängen und einfach in mein Zimmer zu begeben, doch Sam durchkreuzte meinen üblichen Plan.

"Letty, komm doch her und verzieh dich nich' immer so!"

Verdammt.

Langsam drehte ich mich um die eigene Achse und sah zögernd in die erwartungsvollen Gesichter, die mich bereits erwarteten. Was sollte ich sagen, um mich aus dieser Situation herauszuwinden? Sam würde mir sowieso nichts abnehmen.

"Weißt du, ich mag das nicht so...", begann ich zweifelnd, wurde jedoch rigoros von meiner Mitbewohnerin unterbrochen, die sich soeben von ihrem Platz auf dem eingesessenen Sofa erhoben hatte. Bevor sie das Gespräch jedoch fortführte, nahm sie mich beim Arm und zog mich außer Hörweite der anderen Stationsinsassen.

"Hör mal, ich weiß, du bist nich' so der gesellschaftliche Typ, aber das hier ist 'ne kleine gemütliche Runde. Du musst ja auch nichts sagen, auch wenn's ganz nett wär', aber dabei sein is' doch vorerst alles, oder? Komm schon, gib dir 'nen Ruck und beweg deinen knochigen Arsch zu uns anderen; trau dich!"

Nachdem sie ihre Rede beendet und mir noch ein letztes Mal aufmunternd zugelächelt hatte, kehrte sie zu ihrem alten Sitzplatz zurück und stieg wieder munter ins Gespräch ein.

Sollte ich wirklich?

Die Entscheidung wurde mir erneut von Sam abgenommen, die alle anderen voller Enthusiasmus zum Aneinanderdrängen animierte, bis neben ihr ein kleiner Platz freiwurde, auf den sie auffordernd klopfte. Voller Zweifel tapste ich zwischen den Sesseln hindurch und ließ mich vorsichtig neben ihr nieder, wobei ich direkt gegen die sich links von mir befindende Sofalehne gedrückt wurde. Das war allerdings noch mein kleinstes Problem, denn in den nächsten Minuten gelang es mir einfach nicht, Anschluss zur Gruppe zu finden. Sie sprachen miteinander, lachten und spielten Karten, doch ich fühlte mich fast wie in einem Computerspiel.

Ich war zwar körperlich dabei, doch psychisch nicht.

Ich hörte, was sie sagten, doch ich verstand es nicht.

Ich sah ihre Gesichter, doch erkannte sie nicht.

In diesem Moment traf mich die Erkenntnis wie eine nachhallende Ohrfeige.

Alle Jugendlichen in diesem Raum waren krank, doch trotzdem gaben sie einander Halt. Wieso ließ sich diese gegenseitige Unterstützung und Hilfestellung nicht auch auf mich übertragen? Warum war ich so anders? Wieso konnte ich nicht einfach wie sie sein und mich vom Strom mitziehen lassen, anstatt unter Wasser zu ertrinken?

Ich fand keine Antworten, während ich leeren Blickes auf den blaugrauen Zuckergussboden starrte. Sam wollte mir helfen, das fühlte ich. Doch sie konnte es nicht. Niemand konnte das.

Nicht einmal ich selbst.

Meine Gedankenströme wurden von Sam unterbrochen, die sich mittlerweile aus dem allgemeinen Gespräch ausgeklinkt hatte und sich nun mit sorgenvoller Miene mir zuwandte. Die anderen ließen sich nicht stören, als sie mir wortlos aufhalf und uns in unser gemeinsames Zimmer navigierte. Was war denn nun los?

Als sich die Tür hinter uns schloss und die zuvor lauten Gespräche zu einem dumpfen, undefinierbaren Geräusch verstummten, wandte sie sich mir zu.

"Was is' denn los, Letty?"

Sie hatte bemerkt, dass ich abgedriftet war. Doch was sollte ich ihr als Erklärung oder Rechtfertigung bieten? Meine Gedanken waren nicht in Worte zu fassen.

"Ich weiß nicht."

Das ließ sie nicht so stehen.

"Glaub' ich nich'. Jeder weiß irgendwas, du auch. Also...", sie setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett und klopfte wie zuvor auf den freien Platz neben sich, "mein linker, linker Platz is' frei, ich wünsch' mir meine merkwürdige Mitbewohnerin herbei. Setz dich schon."

Ich folgte ihren Anweisungen und kniete mich auf Sams buntbedruckte Bettdecke, die sich kreuz und quer über ihre Matratze zog und teilweise auf dem Boden lag. Obwohl Sam viele Eigenschaften hatte, die sie als gute Mitbewohnerin auszeichneten, war Ordnung keine von ihnen. Sobald man sich umsah, war ihre Seite des Zimmers vollgestopft mit verspielten Basteleien und Bilderrahmen, während um mein Bett gähnende, graue Leere herrschte. Selbst meine einfarbige Bettwäsche bot keine Abwechslung in der Monotonie meines Alltags.

"Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was du damit meinst. Es ist doch alles wie immer, Sam."

Damit log ich und sprach gleichzeitig die Wahrheit aus.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt