Kapitel 11

4.6K 504 48
                                    

11:44 Uhr.

Immer wieder blinkte das Display meines Digitalweckers auf, der auf einer kleinen Ablage am Kopfende meines Stationsbettes stand, und verriet mir, wie lange es noch zum Mittagessen dauerte. Mir graute schon jetzt vor dem Moment, wenn die Stundenanzeige sich auf zwölf verschöbe und der Gruppenraum von vielerlei Essensgeruch gefüllt wäre; die Patienten von ihren Unterrichts- oder Therapiestunden in die Station zurückkehrten und ich wieder aus meinem Zimmer gezwungen würde.

11:45 Uhr.

Die einzige Bewegung, die sich in meinem Blickfeld ereignete, war das ruckartige Umschalten der Minutenanzeige. Seit 11:13 Uhr starrte ich darauf und war schnell in Trance geraten, verloren in meinen Gedanken.

Es war nicht die Zeitangabe des Weckers, die mich interessierte, sondern die Simplizität der Aufgabe, die dieser erfüllt. In diesem Moment wünschte ich mir, ich wäre der Wecker. Nichts zu tun, außer die Zeit anzuzeigen.

11:46 Uhr.

Langsam und unwillig überredete ich mich selbst, meinen Blick von dem dunklen Display mit den neongrünen, eckigen Ziffern abzuwenden. Ich wandte meine Aufmerksamkeit erst einem Riss in der Wand zu, dann einem Kratzer in der Oberfläche meines Schreibtisches und starrte schließlich aus dem Fenster.

Ich hatte einen Ausblick auf den reichlich mit bunten Blumen bepflanzten Innenhof einer anderen Station. Die intensiven Farben bereiteten mir Kopfschmerzen, da ich mich in den letzten Monaten an hauptsächlich Erdtöne und Graunuancen gewöhnt hatte; also lenkte ich meine Augen auf den Gebäudekomplex, zu dem der Hof gehörte, auf den ich dank der durchgehend einstöckigen Architektur einen guten Einblick in einen abgedunkelten Gruppenraum bekam. Welche Station war das? Im Kopf ging ich den ungefähren Plan, den ich vom Klinikgebäude hatte, durch und kam letztendlich auf Merkur, die Jungenstation. Es schien niemand da zu sein, wahrscheinlich waren die Patienten auch in der Klinikschule oder bei ihren Therapeuten.

11:53 Uhr.

Hatte ich tatsächlich sieben Minuten an diesem Fenster verbracht? Es war mir wie ein Wimpernschlag vorgekommen.

Auf einmal ließ mich ein lauter Aufschrei, der von draußen zu kommen schien, ruckartig zusammenfahren. Was war das denn gewesen?

Meine Frage wurde in derselben Sekunde beantwortet, als ein paar männliche Jugendliche den Innenhof durch ein am Zaun angebrachtes Tor, das augenscheinlich zum restlichen Klinikgelände führte, betraten. Zwei von ihnen rangen scherzend miteinander, bis nach einigen Momenten ein Betreuer aus dem Stationsgebäude schritt und sie auseinander zerrte. Durch die Fensterscheibe machte ich nur entfernt aus, wie er sie zusammenstauchte und schließlich auf ihre Zimmer schickte. Die beiden ungefähr Siebzehnjährigen, ein schlaksiger Rotschopf und ein kahlrasierter Muskelprotz, grinsten sich nur gegenseitig an und verschwanden schließlich aus meiner Sichtweite. Ich sah nur noch, wie der Betreuer mehrfach den Kopf schüttelte und sich schließlich an die restlichen vier Jugendlichen wandte, die sichtlich amüsiert neben der Szenerie gestanden hatten und sich nun ihr Lachen zu verkneifen versuchten.

»Also hört mal, ihr müsst die beiden doch auseinander ziehen, wenn sie sich mal wieder raufen!«

»Aber es war doch nur zum Spaß.«

»Trotzdem! Ihr könnt nicht einfach eure spaßhaft aggressiven Emotionen aneinander auslassen, das haben wir doch erst bei der letzten Gruppentherapie besprochen! Da hätte ich echt mehr von euch erwartet, Leute. Wo ist eigentlich Flint, wenn wir doch gerade schon bei Raufbolden sind? Hatte er nicht gleichzeitig mit euch Unterricht?«

»Ja, aber er–«, fing ein eher rundlicher Junge mit mahagonifarbener Haut an zu sprechen, doch ein anderer unterbrach ihn mit einem heftigen Stoß zwischen die Rippen.

»Er kommt nach«, sagte dieser gewaltbereite Jugendliche, der bis zum Hals tätowiert war und auch sonst durch seine vielen Gesichtspiercings, ein grobgeschnitztes Gesicht und weißgefärbten Haare, die aussahen, als wären sie von einem Mähdrescher frisiert worden, eine bedrohliche Erscheinung darstellte, bei dessen Anblick sich Gänsehaut über meinen gesamten Körper ausbreitete. Wieso er hier war, schien ein offenes Geheimnis zu sein, denn seine ganze Ausstrahlung schrie geradezu, dass er schon Jahre von Jugendhaft hinter sich hatte. Mit was für Menschen schlief ich unter einem Dach?

»Was heißt ›Er kommt nach‹?«

Doch der Betreuer bekam keine Antwort, denn in dem Moment quietschte das Eisentor und ein weiterer junger Mann betrat den Innenhof. Er war schlank und groß, mindestens 1,90m, und hatte etwas längere dunkelbraune, vielleicht auch schwarze Haare, die er gerade mit der linken Hand griff und aus seiner Stirn strich, als täte er dies häufiger und mittlerweile unterbewusst. Mit absichtlich provokativ entspanntem Gang bewegte er sich auf die Tür, die ins Innere der Station führte, zu und ignorierte den Betreuer gekonnt, der ihn einfach nur auffordernd ansah, jedoch nicht wirkte, als würde er mit einer Antwort rechnen. Der Unbekannte ging schließlich ins Dunkel der Station, während ich seinen Schatten beobachtete, der immer unklarer wurde, bis er schließlich komplett mit der Umgebung verschmolz.

Nach einigen unangenehmen Momenten der peinlichen Stille löste sich auch die fünfköpfige Gruppe, die zuvor wie eingefroren in der Mitte des Innenhofs ausgeharrt hatte und sich nun ebenfalls in Richtung Station machten. Durch die großflächigen Fensterscheiben machte ich zwei Personen aus, eine weibliche Betreuerin und ein Patient, die gerade als Vorbereitung für das Mittagessen gemeinsam den Tisch deckten.

Wie viel Uhr war es mittlerweile? Ich drehte mich um und kniff die Augen zusammen, um die Ziffern meines Weckers, der sich momentan auf der anderen Seite des Zimmers befand, erkennen zu können.

12:00 Uhr.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt