Kapitel 95

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Sie kommt um drei Uhr diesen Nachmittag.

Das waren Esthers Worte gewesen. Der Stundenzeiger hatte die Drei schon lange überschritten.

Mittlerweile schmerzte mein Hintern von den orangenen Plastikstühlen, die um weiße, an den Boden geschraubte Stahltische herum verteilt standen. Meine Achseln waren nassgeschwitzt, meine Beine zittrig, meine Lippen trocken. Seit einer Dreiviertelstunde, als ich von Chester hierhergebracht und mit ermahnenden Worten zurückgelassen worden war, wartete ich, malte mit meinen Fingern unsichtbare Muster auf die Tischplatte und kippelte auf meinem Stuhl, was mir das Aufsichtspersonal augenblicklich untersagt hatte.

Die Wanduhr im Eingangsbereich des Klinikgebäudes tickte verräterisch vor sich hin und die Sekretäre im durch Panzerglasscheiben abgesicherten Büro taten ihr Bestes, um mich zu ignorieren, doch ich bemerkte ihre Blicke. Unsicher. Aufmunternd. Mitleidig.

Ein weiterer Blick auf die Uhr bestätigte meine Vermutung: Es war bereits halb vier und noch hatte meine Mutter sich nicht blicken lassen. Von der zwanghaften Perfektionistin, die jedes Fenster, jeden Lichtschalter und jedes Elektrogerät dreifach überprüfte, bevor sie das Haus verließ, und nie von ihrem vollen Terminplan abwich. Außer heute, wie es schien.

Vermutlich war die Vorbereitung des Familienfestes wichtiger als ich. Das sollte mich nicht überraschen, immerhin fuhr meine Mutter gerade um die Feiertage zu Hochformen auf und übertraf sich jedes Jahr selbst, doch sie hatte es Esthers Worten nach versprochen. Und wenn ich ihr etwas abgewinnen konnte, dann dass sie nie ihr Versprechen brach. Immerhin würde das eine unvorhergesehene Planänderung bedeuten.

Die Eingangstür schwang auf und eine abgemagerte Frau mit weit aufgerissenen Augen und schwerem Atem blieb vor mir stehen, suchte meinen Blick. Sie war schon in meiner frühesten Kindheit schlank gewesen, während mein Vater nach und nach zugenommen und sich einen leichten Bierbauch angegessen hatte, doch so dünn und ausgemergelt hatte ich sie selbst in ihren schlimmsten Zeiten nicht erlebt. Wenn ihre in schlammigen Farben gehaltenen Kleidungsstücke nicht wie immer glattgestrichen und ihre Haare nicht perfekt gestylt gewesen wären, hätte ich sie verwechselt, doch ja, vor mir stand meine Mutter, in der einen Hand ein Kuchentablett und in der anderen ein festlich verpacktes Geschenk. Auf dem Geschenkpapier schlängelten sich tiefrote Girlanden um lachende Weihnachtsmänner und singende Rentiere, ummantelt von tannengrünem Geschenkband. Alles war fein säuberlich verpackt, ohne einen Knick oder Riss im Papier.

Die Sekunden verstrichen, doch niemand traute sich, etwas zu sagen. Wie sollte ich dieses Gespräch auch beginnen, nach dem, was zwischen uns vorgefallen war? Sollte ich mich kämpferisch, trotzig oder wohlwollend geben? Ich wusste ja selbst nicht einmal, was ich meiner Mutter gegenüber empfand. Wollte ich sie noch weiter in meinem Leben haben oder alle Stränge reißen lassen und in ein Heim ziehen? So viele Fragen, so wenig Zeit, um sie zu beantworten.

"Ich–", sagte meine Mutter und wurde prompt von ihrer Tasche, die auf den Boden fiel, unterbrochen. "Ach, könntest du–"

Die dunkelgrünen Taschenhenkel fühlten sich warm und feucht an, als wären sie ihr durch die verschwitzten Hände gerutscht. Meine Mutter und Nervosität? Sie nahm meine Geste der Freundlichkeit mit einem dankbaren Lächeln an, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. Ihr Blick weckte Erinnerungen, die ich so lange zu verdrängen versucht hatte.

Ausatmen.

Halten.

Einatmen.

Halten.

Ich würde diese Stunde mit ihr schon irgendwie überstehen. Wenn es überhaupt so lange dauerte, bis ich sie durch meine Fehler in den Wahnsinn trieb.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt