Kapitel 36

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Sam wusste, dass etwas nicht mit mir stimmte, doch sie war sensibel genug, um mein Unbehagen bei diesem Thema nicht anzusprechen. Ihr verständnisvoller, jedoch leicht fragender Blick streifte mich vorsichtig, bevor sie sich ihren Comics zuwandte. Sie gab mir jedoch immer wieder durch ein kleines Lächeln zu verstehen, dass meine Probleme gut bei ihr aufgehoben wären.

Die nächsten Minuten verbrachte ich auf meinem Bett und gegen die Decke starrend. Schon vor einigen Tagen war mir aufgefallen, dass immer wieder langgliedrige Spinnen im Zimmer auftauchten und plötzlich auf mysteriöse Weise wieder verschwanden, doch nun sah ich gleich drei von ihnen direkt über mir. Obwohl ich keine Spinnenphobie erlitt, wurde ich immer unruhiger und wechselte immer wieder meine Liegeposition, bis ich schließlich aufstand und das Zimmer verließ, um die Toilette am anderen Ende der Station zu benutzen.

Als ich zurückkam, erwartete mich ein skurriles Schaubild; Sam kauerte kniend auf einem Stuhl und hielt ihr Comicbuch weit von sich ausgestreckt, während sie ihr Gesicht zu einer angeekelten Grimasse verzog. Erst nach genauerem Beobachten entdeckte ich eine kleine Spinne, die sich am äußersten Rand des dünnblättrigen Heftes festgesetzt hatte und sich in diesem Moment durch einen hauchdünn gesponnenen Faden vor Sams wild fuchtelnden Armen zu retten versuchte.

"Sam, warte! Ganz ruhig, in Ordnung?"

Langsam ging ich auf sie zu und nahm ihr vorsichtig das Comicbuch aus der zitternden Hand. Durch den zwischen sie und das Tier gebrachte Distanz konnte meine Mitbewohnerin endlich wieder durchatmen, beobachtete mich jedoch noch immer aus misstrauischen und vor Nervosität zuckenden Augen.

"Sei bitte vorsichtig, das Heft is'n Sammlerstück. Hab's vom Flohmarkt", verzweifelt fuhr sie sich durch die bereits verstrubbelten, kurzen Haare und starrte den Boden vor sich an. "Jetzt sind Spinnenbakterien dran und ich werd's nie wieder anfassen können, so 'ne Hobelschlunze!"

Hobelschlunze?

Ohne weiter auf ihren vorigen Kommentar einzugehen, wand ich mich zum halbgeöffneten Fenster und entsandte die Spinne zurück in ihr Zuhause. Dabei konnte ich es nicht lassen, einen hastigen Blick in die von meinem Standort aus nur schemenhaft erkennbare Station Merkur zu werfen.

Ich wurde fündig.

Gerade als ich meinen Blick weiter ins Innere konzentrieren wollte, trat Flint aus dem einstöckigen Backsteingebäude auf den Innenhof seiner Station und ließ sich auf eine naheliegende Bank nieder, ohne mich zu bemerken. Gedankenverloren pflückte er eine Blüte von einem naheliegenden Busch und faltete sie zwischen seinen Fingern zusammen und auseinander, strich sich mit ihrer weichen Oberfläche über den Handrücken und legte die Beine auf ein Pflanzengitter. Während er da so saß und völlig nachdenklich in sich gekehrt schien, fiel mir gar nicht auf, dass sich Sam schon eine ganze Weile direkt hinter mir aufhielt.

"Na? Is'n ganz schönes Schnuckelchen, nich' wahr?"

Auf meinen erstaunten Blick grinste sie nur unverfroren und verließ unser gemeinsames Zimmer; nicht jedoch ohne einen letzten sorgenvollen Blick auf ihr limitiertes Comicbuch zu werfen und es gründlich auf Schäden zu untersuchen.

Ein Schnuckelchen?

So hatte ich Flint noch nie gesehen. Eher war er wie ein...

Ja, wie was eigentlich?

"Wie lange möchtest du mich noch in dem Glauben anstarren, ich würde dich nicht schon von Anfang an bemerkt haben?"

Mein Gesicht kribbelte vor peinlicher Berührung, als ich schon meinen Kopf aus Reflex aus seiner Sichtweite ziehen und mich in meinem Bett verkriechen wollte, doch ich befahl meinem Körper, nicht ins sonst so für mich übliche Verhaltensmuster zurückzufallen.

Die letzten Tage war es mir nicht einmal schlecht ergangen; immerhin hatte ich in Sam und Flint Menschen gefunden, die mich verstanden und im richtigen Moment auch für mich allein sein ließen. Doch meine Krankheiten schwebten noch immer wie eine dunkle, unheilvolle Gewitterwolke über mir; bereit, jederzeit wieder auf mich niederzuprasseln und mich in Tränen der Verzweiflung ertrinken zu lassen.

"Alles in Ordnung?"

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mal wieder gedanklich abgeschweift war und mit meinem aktuellen leeren Blick einen Hortensienstrauch durchlöchert hatte. Flint war mittlerweile aufgestanden und bewegte sich zurückhaltend auf mich zu, während ich mich noch immer auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren versuchte. Ich musste mich zusammenreißen, sonst würde ich die dunkle Wolke zu spüren bekommen.

Ich musste an etwas Fröhliches denken.

Sam war die fröhlichste Person, die ich kannte; also was würde sie jetzt sagen?

Wahrscheinlich würde sie 'Guten Morgen, Sonnenschein' trällern, ohne dabei Rücksicht auf Verluste in Form von geplatzten Trommelfeldern zu nehmen.

"Ja, alles gut, schätze ich."

Er wusste, dass ich log.

"Lass mich raten; verloren in den eigenen Gedanken?"

Ich nickte nur, um diesen kleinen, geteilten Augenblick nicht durch unwichtige Worte zu vernichten.

"Das habe ich manchmal auch. Da sitze ich beim Essen oder in der Therapie und befinde mich von einem auf den anderen Moment in einer anderen Hemisphäre. Wenn ich dich von nun an mit einem papierweißen Gesicht herumlaufen sehe, weiß ich Bescheid. Ich schätze mal, wir sind Leidensgenossen."

Mit diesen Worten schenkte er mir noch ein letztes Mal ein schwaches, undurchdringliches Lächeln und begab sich zurück zu seiner Station, denn gerade wurden alle Patienten durch ein Glockensignal, das meine Ohren anstrengte und strapazierte, zum Essen gerufen. Sobald ich mich ebenfalls von ihm verabschiedete und den Gruppenraum betrat, begrüßte mich ein mir ironischerweise sehr bekanntes Lied, das gerade im Radio des Betreuers lief, während die restlichen Patienten bereits den Tisch deckten.

Guten Morgen, Guten Morgen

Guten Morgen, Sonnenschein

Diese Nacht bleibt dir verborgen

Doch du darfst nicht traurig sein

Guten Morgen, Sonnenschein

Nein du darfst nicht traurig sein

Guten Morgen, Sonnenschein

Weck mich auf und komm herein

Die Ironie des Schicksals erschlug mich beinahe, doch ich ließ mir nichts anmerken und setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz. Als die anderen sich auf ihre Stühle fallen ließen, entging mir nicht, dass Sam im Takt des Liedes mitwippte und ihre Lippen zum albernen Songtext bewegte.

Ach, Sam.

Du kostbare, liebe Sam.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt