Kapitel 61

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Die Tage vergingen, die Wochen zerrannen, doch ich wachte nicht auf. Aus dem Albtraum, der mein Leben geworden war. Doch für einen Albtraum hätte ich etwas fühlen müssen.

"Scarlett, kommst du bitte zum Abendessen?"

Nur gedämpft hörte ich Herrn Olsens Stimme durch die Bettdecke, die ich mir über den Kopf gezogen hatte. Schon seit Wochen war er der einzige, der mich nicht aufgeben wollte und darauf bestand, dass ich etwas aß oder zu den Therapiestunden ging, damit ich nicht auf die Notfallstation verlegt wurde. Doch so sehr er sich auch bemühte, tat ich nicht mehr, als notwendig war, um meinen Körper zwangsläufig am laufen zu halten.

"Ich habe keinen Hunger", murmelte ich nur in mein Kissen und drehte mich von der Tür weg, bis meine Augen nichts mehr wahrnahmen als die langsam abblätternde Farbe der Tapetenwand. An diesen Anblick hatte ich mich in den letzten Tagen gewöhnt, immerhin sah ich nichts anderes mehr als die ewige Einöde meines Zimmers. Anfangs noch hatten die Betreuer versucht, mich aus meinem Zimmer zu zwingen, verstanden nach einigen hartnäckigen Versuchen allerdings, dass sie mir nicht helfen konnten. Abgesehen von Herrn Olsen. Nur ein leises Klacken verriet mir, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich mir langsam näherte. Nach einigen Momenten des Raschelns wurde es wieder still im Raum. Er hatte sich vor mein Bett gesetzt und rang jetzt mit den Worten, die ihm vermutlich brennend auf der Zunge lagen und darum bettelten, ausgesprochen zu werden. Ich kannte sie bereits, denn er hatte schon oft versucht, mir mit einem langen und feinfühligen Monolog wieder Leben einzuflößen.

"Bitte. Ich versuche nur, dir irgendwie da rauszuhelfen, weiß langsam aber nicht mehr, was ich tun soll. Außerhalb dieses Raums bist du gar nicht mehr anzutreffen! Du isst zwar, wenn ich dich darum bitte, und nimmst deine Therapiestunden mehr oder weniger wahr, doch ich sehe dich selbst nicht mehr hinter dieser steinernen Fassade. Das bist nicht du, Scarlett." Zaghaft legte er eine Hand auf meine linke Schulter und atmete tief ein. "Weißt du noch, als du nach dem Gespräch mit deinen Eltern vollkommen wutentbrannt und enttäuscht nach draußen gerannt bist und ich dich dort gefunden habe? Wir hatten damals ein wirklich tolles Gespräch, weißt du? Mir gabst du das Gefühl, dass du endlich wieder etwas freier sein konntest und nicht ständig mit diesem lästigen Selbsthass hadern musstest. Irgendwie fühlte ich mich, als hätte ich dich damals das erste Mal wirklich richtig sehen können. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie Leid mir das hier alles für dich tut, das ist echt beschissen! Aber du lebst noch, Scarlett. Du atmest noch, du schmeckst und siehst und hörst und fühlst noch."

Für mehrere Atemzüge schwieg ich, besann mich dann jedoch wieder und zwang meinen Mund zum Reden. Die Worte hörten sich hölzern an und meine Stimme klang fremd, als wäre ich nur ein kleiner Parasit in meinem Körper, der eigentlich jemand anderem gehörte. Man könnte mich jederzeit mit einer Zange von meinem körperlichen Ich trennen oder ein Insektengift auf mich sprühen, damit ich endlich aufhörte, mein zerstörerisches Dasein zu leben. Ich war ein Fremdkörper.

"Aber was ist, wenn ich nicht atmen möchte? Wenn ich nicht schmecken und sehen und hören und fühlen möchte? Ich kann nicht mehr. Ich bin müde."

Mit einer abweisenden Bewegung wand ich mich unter seiner rauen Hand hervor und rollte mich unter der Decke noch mehr zu einer undurchdringbaren Festung zusammen, die kein Außenstehender erklimmen konnte. Beinahe verletzt zog Herr Olsen hastig seine Hand zurück und erfüllte mit seinem schweren, trostlosen Atem die nächsten leeren Augenblicke. Ich tat ihm weh, doch genau das wollte ich auch. Niemand sollte sich um mich sorgen oder sich darum kümmern, was mit mir geschah. Ich tat es schließlich selbst nicht einmal.

"Wenn die anderen mit dem Essen fertig sind, hole ich dir auch ein wenig. Was möchtest du?"

Mein Kopf fühlte sich schwer an, als ich ihn vorsichtig anhob, nur um ihn wieder entkräftet auf das Kopfkissen fallen zu lassen.

"Ist mir gleich."

Einige Sekunden der üblichen Stille, dann ein Klacken. Er war gegangen.

Zwei Wochen, genau zwei Wochen war es her, seit Sam mich verlassen hatte. Wie viele Wochen-, Monats- und Jahrestage ihres Todes würde ich noch miterleben? Ich wusste es nicht, und wollte es auch niemals erfahren. Es wäre so viel einfacher, könnte ich einfach einen Schalter betätigen und mein Lebenslicht ausknipsen, doch das war mir nicht möglich. So sauber ging es im echten Leben nicht vonstatten, ich würde mich aufschlitzen oder erhängen müssen. Ein Bettlaken könnte sich gut dafür eignen, doch was, wenn ich währenddessen erwischt werden würde? Sich zu erhängen dauerte zu lange, also war diese Möglichkeit schon einmal keine Option für mich. Ich würde gerne ertrinken, denn dann hätte ich die Natur um mich, während ich starb, doch mein alleiniger Ausgang war mir gesperrt worden. Da ich aufgrund meiner Lage auch während des Duschens einer Beobachtung unterstellt war, konnte ich auch da keine Versuche begehen. Doch warum versuchen? Es musste nur ein einziges Mal klappen, dann wäre es vorbei. Nicht wie zuvor. Die Narben zierten noch immer meinen bleichen Körper durch ihre grausame Hässlichkeit, sodass ich mit jedem Blick auf sie an mein Versagen erinnert wurde. Wieso lebte ich, wenn gute Menschen wie Sam starben? Ich wollte ein letztes Mal etwas richtig tun und mir selbst das ersehnte Ende bereiten.

Alles wäre vorbei.

Vielleicht würde ich Sam wiedertreffen? In einem anderen Universum? Wahrscheinlicher war jedoch die ewige Schwärze, in welcher ich letztendlich versinken würde. Doch selbst das war mir lieber als mein aktuelles Leben. 

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt