Kapitel 96

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Meine Mutter hatte Recht, der Kuchen schmeckte wirklich köstlich. Im Kontrast zu den lauwarmen Brühen und Eintöpfen, die in den letzten Wochen meine Ernährung ausgemacht hatten, wirkte die fruchtige Süße des Kuchens wie ein Gottesgeschenk. Wir verbrachten einige Minuten in vollkommener Stille, nur hin und wieder unterbrochen vom Klirren des Geschirrs und Rauschen des aufkommenden Winterwindes.

"Ich habe dir ein kleines Geschenk mitgebracht", sagte meine Mutter und schob mir das Päckchen über den Tisch. "Es ist nichts Weltbewegendes, aber zu Weihnachten wollte ich dir etwas geben. Vielleicht freust du dich, aber du musst es auch nicht behalten. Alles Gute jedenfalls."

Meine Eingeweide verkrampften sich. Wollte ich wirklich, dass es bei unserem Treffen schon wieder um Materielles ging? Hoffentlich war das Geschenk nicht zu teuer gewesen.

Das Geschenkpapier knisterte lautstark, so vorsichtig ich auch versuchte, es aufzureißen. Diese Verschwendung an Papier war schon immer etwas gewesen, das Weihnachten für mich nicht als Fest der Liebe und Familie, sondern des Geldes und Größenwahns gekennzeichnet hatte. Doch ich durfte mir meine Gefühle nicht anmerken lassen. Meine Mutter hatte sich beim Verpacken so viel Mühe gegeben; ich wollte sie nicht verletzen.

Nach mehreren Schichten zerrissenen Geschenkpapiers offenbarte sich ein dunkelgrauer Ledereinband. Ein Buch? Oder Kartonage für eine Uhr?

Bitte lass es keinen Schmuck sein.

Es war eine Fotosammlung. Der Einband war schlicht gehalten, mit der sauberen Handschrift meiner Mutter auf der Vorderseite. Für Scarlett – Auf viele weitere gemeinsame Erfahrungen.

"Gefällt es dir nicht?" Die Stimme meiner Mutter zitterte. "Ist es zu kitschig? Ich kann auch einen anderen Einband kaufen oder etwas anderes hinschreiben–"

"Es ist schon gut so." Hoffentlich war das nicht vorgegriffen und mich erwartete im Inneren eine böse Überraschung. "Kann ich es mir später anschauen?" Das schaffte ich nicht auch noch. Mir fehlte die zusätzliche Kraft für emotionale Untertitel und fröhliche Kinderfotografien von mir und meiner Verwandten.

Meine Mutter lächelte und nickte verständnisvoll, doch ich sah auch den Schmerz in ihren grauen Augen. Schon wieder etwas Falsches gesagt. Das Treffen könnte wirklich besser laufen.

"Das ist verständlich, ja", murmelte sie vor sich hin und legte das Geschirr beiseite. Es war ihr anzusehen, wie schwer ihr die folgenden Worte fielen, und ich brüstete mich schon für einen verbalen Weltuntergang. "Weißt du, Scarlett, mein eigentlicher Grund fürs Kommen war ja nicht der Kuchen. Oder die Fotos, was weiß ich. Eigentlich wollte ich mit dir über unsere Familie reden."

Unsere Familie. Das fing ja schon einmal gut an. Mein Brustkorb wurde immer enger.

"Ich möchte, dass du dich zuhause wieder wohl fühlst. Gibt es irgendetwas, wobei ich da helfen kann? Bitte fühl dich zu nichts gedrängt; ich weiß, dass ich das Ganze in der Vergangenheit alles andere als richtig angegangen bin, und das tut mir Leid."

Meine Wünsche hatte ich schon lange gedanklich ausformuliert, mich aber nie getraut, sie laut auszusprechen. Und wie konnte ich sie äußern, ohne auf einen Sturm der Entrüstung zu stoßen? Ich merkte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

"Kann ich dich bei deinem Vornamen nennen?"

Mein Gegenüber zog scharf die Luft ein. Sie hatte sich eine Annäherung erhofft und ich stieß sie nur noch weiter von mir weg. Wahrscheinlich hatte ich es mir verscherzt, sie würde beleidigt abziehen und–

"Wenn du dir das wünscht."

Nathalie war anzusehen, wie schwer ihr diese Worte fielen. Ihren Blick hatte sie auf die Tischplatte gesenkt, die Schultern hingen nach vorne und einige ins Gesicht fallende Haarsträhnen versteckten ihre Augen vor mir. Schluchzte sie? Oh nein. Hatte ich meine Mutter zum Weinen gebracht?

Auf einmal zuckte sie zusammen, ein Ruck fuhr durch ihren Körper und endete in ihren Händen, die das Geschirr, das sie gerade noch fein säuberlich neben sich platziert hatte, vom Tisch fegten und auf der betonierten Terrasse zerspringen ließen. Ich sprang auf und versuchte, die Scherben einzusammeln, doch sie legte mir eine Hand auf die Schulter, als wollte sie mich aufhalten, und brach endgültig zusammen. Ihr Schluchzen schnitt durch die kalte Winterluft und klang wie ein Todesschrei.

"Was ist los?"

Ich erhielt keine Antwort, stattdessen vergrub sie das Gesicht in den Händen und zog die Knie an den Oberkörper. Meine Mutter saß vor mir wie ein Kind, das getröstet werden musste.

"Hey, es ist doch nur Geschirr. Wir haben davon doch sowieso zu viel", scherzte ich, doch mein Humor fand keinen Anklang.

Die Terrassentür wurde aufgerissen und Esther lief nach draußen. Ich hätte nie gedacht, dass sie in ihrer Verfassung noch so schnell unterwegs sein konnte.

"Frau Bell? Geht es Ihnen gut? Ich kann einen Sanitäter rufen, haben Sie sich verletzt? Scarlett, lass bitte die Scherben fallen und setz dich wieder hin."

Sie gab Chester ein Handzeichen, der sofort nach dem Telefon im Betreuerbüro griff. Innerhalb weniger Sekunden hatte Esther meine Mutter aufgerichtet und begann, sie nach Einschnitten zu untersuchen.

"Es ist nichts–", wollte diese sich aus der Situation herausreden, aber ich erkannte die Panik in ihren Augen. Sie hatte Angst, aber wovor? Vor mir?

"Passiert Ihnen so etwas öfter?"

Sie schloss die Augen und nickte. "Es ist nicht schlimm, nur eine ... Übersprungbewegung."

Eine Lüge, das wussten sowohl Esther als auch ich. Doch ich beließ es dabei, auch wenn mich ihre Nervosität verwunderte. So emotional hatte ich sie noch nie erlebt. Hatte sie sich vielleicht doch verändert?

"Ha, das geht mir manchmal ähnlich", gab Esther zu und kicherte mädchenhaft, "aber bei mir liegt das wohl am Alter."

Selbst meine Mutter konnte sich darauf ein Lächeln nicht verkneifen. Esther munterte wirklich jeden auf, selbst eine Persönlichkeit wie sie. Durch die Fensterscheiben sah ich, wie zwei Sanitäter in die Station traten und auf Befehl von Chester wieder murrend den Rückweg antraten. Er hatte uns die ganze Zeit beobachtet. Ich war mir nicht sicher, ob mich das beruhigen sollte.

"Ich räume hier gleich die Scherben weg, ihr könnt euch ja zusammen in den Gemeinschaftsraum setzen, oder?", schlug Esther vor und klatschte in die Hände. "Auf geht's!"

Anders als erwartet verbrachten wir die nächsten Minuten nicht in peinlicher Stille. Der Unfall meiner Mutter schien die Stimmung auf unerklärliche Weise gelöst zu haben. Esther machte ihr und sich einen schwarzen Kaffee und bot uns den Esstisch an. Und so saßen wir dort zu dritt, sprachen über Gott und die Welt und Minuten wurden zu Stunden.

Ich konnte meine Mutter mit ihrem Vornamen ansprechen, ohne dass sie zusammenzuckte oder unglücklich aussah. Viel eher schien es, als hätte sie mich verstanden. Was in der Vergangenheit zwischen uns geschehen war, würde ich niemals vergessen können. Um aber die Möglichkeit offenzuhalten, ihr jemals verzeihen zu können, musste ich sie auf Augenhöhe kennenlernen. Nicht als Mutter und Tochter, sondern Nathalie und Scarlett.

Es war bereits später Abend, als Nathalie die Station verließ. Die restlichen Patienten machten sich bereit fürs Abendessen, während ich sie verabschiedete. Wir hielten noch immer gebührenden Abstand – für eine Umarmung war ich noch nicht bereit –, doch ihre Augen glänzten wieder ein wenig, als sie mir unsicher zulächelte und sich wegdrehte. Und ich war mir ziemlich sicher, dass meine ebenfalls schimmerten. Vor Glück? Vor Rührung? Vor Tränen? Das wusste ich nicht, aber es war auch nicht wichtig. Wir beide hatten noch so vieles nicht angesprochen, über das wir reden mussten. Dafür würden wir auch noch die Zeit finden.

Momentan zählte für mich nur eines: Während des Nachmittags hatte ich Nathalies Lachen gesehen – unbeschwert und fröhlich, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Komisch. Aber irgendwie auch schön.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt