Kapitel 49

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"Ich brauch' dich auch, Scarlett. Mehr als du denkst", flüsterte Sam mir mit tränenerstickten Stimme zu, während sie ihre Arme um mich klammerte, als fürchtete sie, dass ich ihr entrissen werden würde.

Vollkommen sprachlos erwiderte ich ihre Umarmung und schmiegte mein Gesicht in ihren warmen Nacken. Das letzte Mal, dass ich einem Menschen so nahe gekommen war, lag nun schon bereits mehrere ungezählte Wochen zurück. Doch damals war es nicht Sam gewesen, sondern Flint.

Flint.

Wie es ihm wohl ging?

Beinahe ängstigte mich der Gedanke an ihn, denn vielleicht steckte er in Schwierigkeiten, ohne dass ich davon wusste. Bei unseren letzten Begegnungen hatte er erschöpft und ausgelaugt gewirkt; doch waren wir das nicht alle?

"So, und jetzt Schluss mit der Gefühlsduselei, mir wird noch schwindelig", unterbrach Sam diesen innigen Moment und löste sich zögerlich von mir.

Ich konnte ihr geradezu die peinliche Berührung ansehen, die sie zu plagen schien; anstatt sie jedoch darauf anzusprechen, blieb ich lieber stumm. Es war mir schon des Öfteren aufgefallen, wie ungern Sam sich selbst als schwach oder verletzlich betrachtete, also ließ ich sie in diesem empfindlichen Moment in Ruhe und verabschiedete mich mit einer leichten Berührung ihrer von mir abgewandten Schulter.

Mittlerweile dämmerte es bereits und die Betreuer trafen sich in der nebenangelegenen Station zur alltäglichen Tratschrunde. Durch die halbzugezogenen Jalousien konnte ich nur die schemenhaften Umrisse der Erwachsenen erkennen, die sich augenscheinlich prächtig zu amüsieren schienen. Gleichzeitig fiel mein Blick auf die massenhaften Broschüren im nun leeren, abgeschlossenen Betreuerbüro.

'Mein Kind verletzt sich selbst – was tun?'

'Woran erkenne ich, dass mein Kind an Selbsthass leidet?'

Wie man Depressionen überwindet und Angehörige und Freunde dabei helfen können'

All diese typischen Ratgeber waren mir zur Genüge bekannt, doch trotzdem faszinierten sie mich immer wieder aufs Neue. Das erste Mal war ich im Sprechzimmer meiner Hausärztin auf solche Prospekte aufmerksam gemacht worden, doch mittlerweile wurde ich regelmäßig zum Lesen dieser literarischen Meisterwerke verdonnert, da sie mir helfen würden, den Blickpunkt meiner Familie besser verstehen zu können; doch das tat ich bereits längst.

Das gestörte Verhältnis zu meinen Eltern lag nicht an meiner Krankheit oder fehlender Kommunikation, welche durch Therapie vermutlich behebbar wäre. Tatsächlich lag der Ursprung viel tiefer und weiter vergraben in dem inneren meiner kaputten Psyche, aber selbst ich konnte ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig benennen. Selbstverständlich hatte mein Großvater einen nicht kleinen Beitrag zu meinem aktuellen Zustand geleistet, doch das allein war es nicht; das spürte ich einfach. Anstatt sich also abgedroschenen und nicht durch ein paar halbherzige, gedruckte Wörter heilbaren Fragen zu widmen, sollten sich die Autoren dieser Broschüren die wahren Probleme hinter der Fassade anschauen. Warum widmete man sich nicht den Angelegenheiten und Problematiken, die niemand auszusprechen wagte?

'Mein Bruder interessiert sich einen Dreck für mich – was tun?'

'Woran erkenne ich, dass ich nicht für diese Welt geschaffen wurde und eigentlich gar nicht hier sein sollte?'

'Wie man sich der Entfremdung zur eigenen Familie bewusst wird und Depressionen und Angststörungen dabei helfen können'

Der schwarze Humor überschattete mein logisches Denken, doch ich hatte nicht vor, ihn zu bremsen. Wenn ich schon Depressionen hatte, sollte ich wenigstens schlechte Witze darüber reißen.

"Grrhg!"

Ein unterdrücktes Aufstöhnen riss mich aus meinem kreativen Leistungshoch und schleuderte mich knallhart auf den Boden der Realität zurück. Was war das für ein Geräusch gewesen? Oder hatte ich mir nur etwas eingebildet? Kamen die Halluzinationen und psychotischen Symptome zurück? Erlitt ich einen Rückschlag, ohne es zu merken?

"Errgh-"

Dieses Geräusch konnte nicht aus meinem Kopf stammen; doch woher dann? Vorsichtig blickte ich um mich und entdeckte keine Menschenseele, da sich die meisten meiner Mitbewohner im Innenhof aufhielten, woraufhin sich meine Paranoia ins Unermessliche steigerte. Erlaubte sich jemand einen schrecklichen Scherz mit mir?

"Urgh-"

Erneut traf mich das leidende Geräusch wie ein Schuss ins Rückgrat. Ich musste der Person helfen, denn es klang, als litt sie unerträgliche Schmerzen. Doch wo befand sie sich?

Behutsam, um ja das kleinste Geräusch nicht zu verpassen, setzte ich mich in Bewegung und erhaschte einen kurzen Blick durch das Küchenfenster, aber diese wirkte geradezu leergefegt, wenn man von den vor lauter Geschirr explodierenden Regalen absah. Daraufhin wollte ich mich bereits abwenden und bei den Patientenzimmern nachsehen, als ich das Geräusch auf einmal lauter als die Male zuvor erneut wahrnahm. Es klang, als käme es aus dem Badezimmerflur, an den jeweils das großzügige Duschzimmer mit den Waschbecken zum Zähneputzen, ein Waschraum, die kleine Vorratskammer und ein Toilettenraum grenzten. Als ich vor letzterem zum Stehen kam, hörte ich hechelndes Atmen und dann eine kurze Pause, auf die ein weiteres schmerzerfülltes Wimmern folgte.

Was passierte dort? Selbst unter meinem dicken Pullover hatte sich mittlerweile eine panische Gänsehaut ausgebreitet und meinen Oberkörper zum Erfrieren gebracht, sodass ich bewegungslos an der selben Stelle stehenblieb und meine Gedanken rattern ließ.

Sollte ich etwas tun? Falls ja, was?

Ein zischendes Einatmen hinter der Toilettentür traf die Entscheidung für mich. Da die Toilettentüren aus Sicherheitsgründen nicht geschlossen werden konnten, drückte ich die schwere Türklinke kurzerhand nach unten und stieß die breite Tür auf.

Was ich dort sah, ließ meinen Atem für einen kurzen Moment stillstehen. Sorgsam in meinem Kopf vergrabene Erinnerungen wurden durch diesen Anblick zurück ans Tageslicht geschaufelt und ich fühlte meinen Körper schwanken, bevor ich mit schummrigem Blick umkippte und mich mit letzter Kraft an einen Waschbeckenrand klammerte, während ich mit immer noch fassungsloser Miene das Szenario betrachtete, das sich mir in diesem Augenblick bot.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt