Kapitel 17

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»Wollen wir weitermachen oder möchtest du die Therapiestunde für heute abbrechen? Dir scheint es nicht gut zu gehen, Scarlett.«

Ich hörte Frau Hendels Stimme, doch ich konnte ihre Worte in nichts Sinnvolles verwandeln. Nichts, überhaupt nichts, war gerade wichtig für mich.

Automatisch fuhr meine rechte Hand zu meinem Schlüsselbein und fuhr über die Konturen des Knochens, der aufgrund meines mangelnden Appetits zu deutlich hervorstand. In der Nähe der Halsbeuge war eine Erhebung, denn dort hatte mein Großvater es mir einst gebrochen.

In den Akten meines Arztes war es ein ›Spielunfall‹ gewesen, doch ich wusste es besser. Meine Mutter auch.

Sie hatte es gesehen.

Sie hatte es gesehen.

Sie hatte es gesehen.

Doch meine Mutter hatte nichts unternommen, um meinen gewalttätigen Großvater aufzuhalten. Hatte ihn mich einfach zusammenschlagen lassen, ohne etwas dagegen zu unternehmen; doch bis heute bestritt sie es, sobald sich jemand weiteres im selben Raum befand. Ihr guter Ruf war ihr wichtiger als Gerechtigkeit oder das gesundheitliche Wohl ihrer damals fünfjährigen Tochter.

Es war ihr egal gewesen.

Ich war ihr egal gewesen.

Ruckartig löste ich mich aus meiner geistigen Starre und richtete meinen glasigen Blick auf die Frau, die mir gegenüber saß. Obwohl mir bewusst war, dass ich meine Therapeutin vor mir hatte, kam ich nicht um den Fakt herum, das beide erschreckende Ähnlichkeiten aufwiesen.

Die Lesebrille.

Die halblangen, blonden Haare.

Der strenge Blick.

Diese eiskalten, eiskalten Augen.

Wie sollte ich meine Ängste bekämpfen, wenn einer der größten Ursprünge meiner Furcht in veränderter Form direkt vor mir saß und erwartete, dass ich ihr mein Herz ausschüttete?

Ich fror.

Nicht nur wegen der Temperatur, die sich durch das geöffnete Fenster deutlich gesenkt hatte und somit die für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalte Luft ins Zimmer ließ. Die Kälte kam von innen, sie strömte aus mir heraus und erfüllte meine Umgebung.

Ich kann es nicht stoppen.

»Nein, ist okay. Ich möchte über das Thema einfach nicht reden.«

»Fährst du dann fort, bitte?«

»Uh, okay.«

Ich nahm mir einen weiteren Stein und legte ihn nicht weit entfernt von der kleinen Blume ab.

»Was war das für ein Ereignis für dich?«

Die restliche Stunde ging immer so weiter. Ein Stein oder eine Blume, ein ›Was hat dich in diesem Moment bedrückt?‹ oder ein ›Was hat dich daran erfreut?‹. Mit der Zeit wurde es mir immer unangenehmer, dieser kalten Frau mein Inneres zu eröffnen. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, ich belustigte sie mit dem Wegblinzeln meiner Tränen und dem Brechen meiner wackligen Stimme. Als schließlich der Minutenzeiger auf die Neun sprang und ich entlassen wurde, atmete ich erleichtert aus, sobald ich aus dem Büro trat. Der Ausblick auf kahle Backsteinwände und die immerzu gleichen Flure war nicht beeindruckend, doch er erleichterte mich in gewissem Maße. Ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen, denn Frau Hendels Büro war wie ein Boot auf stürmischer See. Ich wusste nie, was als nächstes passieren und ob ich überleben würde.

Außerdem war mir speiübel.

Herr Olsen erwartete mich bereits vor der Tür und begleitete mich schließlich zurück zur Station, doch sobald die Tür hinter mir verschlossen wurde und ich somit keinen Fluchtweg mehr sah, fühlte ich mich sofort wieder eingeengt. Gerade wollte ich mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen und für immer alleine sein.

Herr Olsen schien von meinem inneren Kampf jedoch nichts mitzubekommen, da er sich wieder vor dem Computer im Büro platziert hatte.

»Ich möchte duschen«, platzte plötzlich aus mir heraus, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Wieso hatte ich das gesagt?

Herr Olsen blickte sichtlich verwirrt von dem Digitalbildschirm auf und sah mich durchdringend an, auf der Suche nach einem Zeichen, dass ich allmählich durchdrehte. Es war das erste Mal seit meiner Ankunft in der Klinik, dass ich mich in den Duschraum begeben würde. Zuvor hatte sich mein Aufenthaltsort nur stetig zwischen meinem Zimmer, dem Esstisch und den Toiletten abgewechselt, doch um für meine Körperhygiene sorgen zu können, war ich in letzter Zeit meistens zu schwach gewesen.

»Es ist mitten am Tag–«

»Ich möchte duschen. Ich fühle mich dreckig.«

Noch immer sah er mich zweifelnd an.

»Ich möchte duschen. Jetzt.«

Schweigen.

»Bitte.«

Ein letztes Mal sein durchdringender Blick, dann nickte mein Betreuer schließlich und griff nach den Schlüsseln.

»Hier bitte«, sagte er und überreichte ihn mir. »Aber sei in fünfzehn Minuten bitte fertig, sonst bekomme ich Ärger von oben.«

Nachdem ich brav genickt und Wechselklamotten aus meinem Zimmer geholt hatte, schloss ich die Tür des Duschraums hinter mir zu und verriegelte sie.

Endlich Ruhe.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt